Waschke, Torben: Russland: Ein geopolitischer Diskurs im Wandel
Book review Erdkunde 70(4) 2016, 367 by Markus Gögele
Nach dem Fall der Mauer verließ rund die Hälfte der damaligen sowjetischen Bevölkerung den Einflussbereich des Kremls, ohne dass seitens der geschwundenen Weltmacht je zum Äußersten gegriffen wurde. Seitdem sind insgesamt 14 prowestliche Staaten des ehemaligen Ostblocks entstanden, wovon heute zehn Staaten NATO-Mitglieder sind. Dennoch wird die potentielle Annäherung der Ukraine an die EU und NATO von Moskau schon länger als machtpolitische Gefahr wahrgenommen. Kiew galt stets als „Mutter“ der russischen Städte. Hier hatte sich vor 1.000 Jahren, nach der Bekehrung zur christlichen Orthodoxie, die Geburt des russischen Staatswesens vollzogen.
Vor diesem Hintergrund wird die Problematik des Ukraine-Konflikts als wichtiges Untersuchungsfeld deutlich, welcher nach wie vor nicht an politischer und wissenschaftlicher Relevanz verloren hat. Der Fokus des Autors Torben Waschke liegt dabei besonders auf einer „Renaissance des geopolitischen Denkens“ bzw. einen Rückfall in eine Politik der Konfrontation, Einflusssphären und Prestigeambitionen bei gegenseitiger Dämonisierung. Vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik sei ein altes, archaisch geprägtes Denken zu finden – getreu dem Motto: „Geografien und Interessen sind konstanter als kurzlebige Legislaturperioden und ihre Repräsentanten“.
Obwohl dieser geopolitische Ansatz als wissenschaftliches Konzept ist sehr umstritten ist, habe diese wissenschaftliche Strömung bei den aktuellen strategischen Machtverhältnissen im östlichen Europa, vor allem in der Russischen Föderation einen Boom erfahren. Kritisch betrachtet der Autor vor diesem Hintergrund selbstbeschreibende Überschriften, wie zum Beispiel: „Cold War II“ im führenden amerikanischen Nachrichtenmagazin „The Times“, ebenso wie der unilaterale Ausdruck einer stereotypischen Stigmatisierung, „Der Halbstarke: Wie Putin die Demokratie und den Westen attackiert“ in „Der Spiegel“.
Das Verdienst des vorliegenden, von Andreas Dittmann, Wolfgang Gieler, Alfredo Pinto Escoval Bands 18 der Reihe „Entwicklungsforschung. Beiträge zu interdisziplinären Studien in Ländern des Südens“ liegt vor allem auch darin, die Verflechtungen zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch und politischen Interessen herauszuarbeiten. Denn bei der gegenwärtig stattfindenden „Geopolitisierung in Europa“, so Waschke, gehe es darum, wer es schafft, die Ukraine in den eigenen Einflussbereich zu ziehen. Aufgrund des entstandenen „machtpolitischen Vakuums“ und ihrem inhärenten Eskalationspotenzials, bleibe die Ukraine ein Unsicherheitsfaktor mit schwer überschaubaren Auswirkungen in einer insgesamt beunruhigenden Szenerie.
Die Arbeit wirft ein differenziertes Licht auf die außenpolitischen Interessenssphären Russlands in Bezug auf den Westen und die Ukraine und stellt die Frage, inwieweit der geopolitische Diskurs der Russischen Föderation einem Wandel bzw. einer bestimmten Kontinuität unterliegt. Diese Leitfrage impliziert weitere grundlegende sekundäre Fragen: „Was sind die wichtigsten außenpolitischen Konzeptionen der Russischen Föderation gegenüber dem Westen und der Ukraine seit dem Zerfall der UdSSR? „Russlands geopolitischer Imperativ in der unabhängigen Republik Ukraine: imperiale Versuchung, hegemonialer Anspruch oder legitime Interessenspolitik?“ Welche Perspektiven und Handlungsnotwendigkeiten ergeben sich durch den Diskurs am Beginn des 21. Jahrhunderts?
Unter konkreten Gesichtspunkten wird die facettenreiche Entwicklung chronologisch präsentiert, analysiert und reflektiert. Im Mittelpunkt steht die Prüfung der Hypothese, dass Russlands Außenpolitik ein Dilemma von einer „romantischen Phase“ vorbehaltloser Hinwendung zum Westen zur Wiederbelebung eines wachsenden regionalen Souveränitätsanspruchs mit revisionistischen Tendenzen und Großmachtattitüde sei. Die Diskursanalyse untersucht die Besonderheiten der russischen Außenpolitik in Bezug auf den gegenwärtigen Ukraine- Konflikt und arbeitet die Tendenzen heraus. Besonders hervorzuheben ist, dass die Informationen aus Fachliteratur und -zeitschriften mit offiziellen Dokumenten verglichen werden.
Als Fazit hebt der Autor hervor, dass eine aus der Logik der Konfrontation resultierende Entwicklung für keine Seite vorteilhaft sein würde. Früher oder später werde sich die Erkenntnis durchsetzen müssen, dass der Konflikt nur politisch zu lösen ist. Doch ohne eine Berücksichtigung der russischen Erfahrungen speziell der letzten 25 Jahre, werde eine sichere und langfristige Lösung der dramatischen Krise um die Ukraine nicht gelingen.