Maus, Gunnar: Erinnerungslandschaften: Praktiken ortsbezogenen Erinnerns am Beispiel des Kalten Krieges
Book review Erdkunde 70 (2) 2016, 194-195 by Klaus Fehn
Mit der hier zu rezensierenden Kieler geographischen Dissertation wurde der anspruchsvolle Versuch unternommen, das Forschungsfeld der „Erinnerungslandschaften“ nicht nur als eine wichtige Aufgabe der modernen Humangeographie theoretisch zu begründen, sondern auch die Brauchbarkeit des Konzepts der „Praktiken ortsbezogenen Erinnerns“ durch eine umfassende Fallstudie zu den beiden unterschiedlich durch den Kalten Krieg betroffenen Gebieten des Fuldaer Raumes in Osthessen und von Schleswig-Holstein (unter Einbeziehung des Großstadtbereichs von Hamburg) vorzuführen. In der Zusammenfassung heißt es hierzu: „Überreste der Militarisierung im Westen der Bundesrepublik werden seit einigen Jahren verstärkt als Relikte des Kalten Krieges gedeutet. An diesem Prozess sind Akteure aus unterschiedlichen Feldern […] beteiligt. Ihre Aktivitäten können zusammenfassend als im Entstehen begriffene Erinnerungslandschaft des Kalten Krieges bezeichnet werden“.
Die Untersuchung zeichnet sich durch eine beeindruckende Übersichtlichkeit der Darstellung aus, was bei dem komplexen Thema keine Selbstverständlichkeit ist. Bemerkenswert sind neben den durchdachten Zwischenüberschriften und Hervorhebungen die fünf Zwischenfazite als Vorbereitung für das umfangreiche Schlusskapitel sowie die 9 gesondert aus dem Text herausgelösten „Exkurse“, die nach Aussage des Verfassers „theoretische Bezüge, empirische Beispiele oder weiterführende Informationen, die nicht zum Kern der Arbeit gehören“, enthalten. Weiterhin sind zahlreiche vom Verfasser erstellte Untersuchungsschemata, einige Übersichtskarten und eine Fülle von Abbildungen in schwarz-weiß positiv zu erwähnen. Eine sehr plastische Vorstellung von einer „militarisierten Landschaft“ vermittelt das farbige Bild auf dem Buchtitel.
Das Inhaltsverzeichnis weist folgende Kapitelüberschriften auf: 1. Wie erinnern wir den Kalten Krieg? 2. Geographische Erinnerungsforschung (Kollektives Erinnern; Individuelles Erinnern; Soziale Praxis; Bedeutungsvolle Materialitäten). 3. Erinnerungslandschaft als Analyserahmen (Praktiken als Ort des Sozialen; Von der Sozialontologie zum Analyserahmen; Erinnerungslandschaften). 4. Forschungsdesign und Einführung in den Untersuchungsgegenstand (Fragestellung und empirische Kontexte; Beachtbarkeit sozialer Praktiken; Methodik und Feldforschung). 5. Denkmalschutz und Geocaching als Praktiken ortsbezogenen Erinnerns (Staatlicher Denkmalschutz und Zeugnisse des Kalten Krieges; Geocaching und Lost Places der Geschichte). 6. Erinnerungskultureller Kontextualitätswandel: Vergangenheit für die und in der Gegenwart (Relikte des Kalten Krieges als Vergangenheit für die Gegenwart; Persistenz von Praktiken aus der Zeit des Kalten Krieges als Vergangenheit in der Gegenwart). 7. Erinnerungslandschaften zwischen Homogenität und Vielfalt. Am Beginn der Veröffentlichung ist eine knappe deutsche Zusammenfassung zusammen mit einer ebenfalls nur eine Seite umfassenden „Summary“ mit dem Titel „Landscapes of Memory: Practices of Localized Remembrance of the Cold War“ plaziert. In diesem Zusammenhang ist kritisch anzumerken, dass das sehr instruktive Schlusskapitel (7. Erinnerungslandschaften zwischen Homogenität und Vielfalt: S. 257–265) nicht ins Englische übersetzt wurde. Dies ist insofern bedauerlich, da sich der Verfasser sehr kenntnisreich mit der englischsprachigen Literatur auseinandersetzt. Darauf weist auch der Umstand hin, dass über die Hälfte der über 350 im Literaturverzeichnis genannten Titel von englischsprachigen Autoren stammen. Der internationalen Resonanz der in der Dissertation erarbeiteten Forschungsergebnisse wäre also eine umfangreichere Zusammenfassung bestimmt zugutegekommen.
Dieser hohe Anteil an nichtdeutschsprachiger Literatur ist kein Zufall. Er weist auf die grundlegenden Anregungen hin, die Maus hieraus gewonnen hat. An dieser Stelle ist auch der Hinweis angebracht, dass nach der Fachzugehörigkeit nichtgeographische Publikationen sowohl bei den deutsch- als auch bei den englischsprachigen Titeln eine große Rolle spielen. Besonders wichtig waren für den Verfasser die Veröffentlichungen des Sozialphilosophen Theodore Schatzki, der „präzise Begriffe für die Beschreibung routinisierter Handlungskomplexe als soziale Praktiken vorgelegt hat“. Im Anschluss daran entwickelte Maus eine „praxistheoretische Konzeption von Erinnerungslandschaft“ als „Erweiterung der Geographischen Erinnerungsforschung“ in die Richtung auf eine „public geography“.
Die beiden Untersuchungsräume ergänzen sich nach der Meinung des Autors in Hinblick auf ihre erinnerungskulturellen Dispositionen. Die als Fulda Gap bekannt gewordene osthessische Region galt als wahrscheinlichstes Hauptangriffsziel, während Schleswig-Holstein keine vergleichbare symbolische Aufladung im Kalten Krieg erfuhr. Für die Untersuchung der aufgelassenen Militäranlagen und der ehemaligen Einrichtungen des Zivilschutzes in den beiden Erinnerungslandschaften wurden fünf Felder ausgewählt: der staatliche Denkmalschutz, die Museen, die Initiativen, die Internetforen und das Geocaching. Besonders intensiv beschäftigte sich Maus mit den beiden extrem weit auseinanderliegenden Feldern des Denkmalschutzes und des Geocaching, wobei er von einer grundlegenden Gemeinsamkeit dieser verschiedenen Praktiken ortsbezogenen Erinnerns ausging. „Geocaching“ wird in der Untersuchung wie folgt definiert: „Ein Generationen übergreifendes Spiel mit dem Ziel, zuvor von anderen Teilnehmern versteckte Caches (Schätze) mit Hilfe geographischer Koordinaten und eines GPS-Gerätes aufzuspüren“. An diesem Teilkomplex wird besonders deutlich, welche speziellen Aufgaben hier der „public geography“ zugewiesen werden. Maus formuliert dies folgendermaßen: „Es ist wenig sinnvoll die Deutungshoheit über Orte, Dinge und ihre Geschichte staatlich legitimierten Institutionen allein zu überlassen oder nur diesen die Fähigkeit und Veranlagung dafür zuzuschreiben“. Maus zieht folgendes positive Fazit: „Am Beispiel der sog. ‘vorbereiteten Sperren‘ lässt sich gut nachvollziehen, welche Stellung die Relikte im Kontext verschiedener Praktiken jeweils in den korrespondierenden Arrangements einnehmen“.
Die Erinnerungslandschaft stellt für Maus eindeutig ein soziales Phänomen dar, das die Vergegenwärtigung von Vergangenheit bedeutet. Ihm ist aber auch bewusst, dass es sich hier um ein „ortsbezogenes Erinnern“ handelt und dass es „Kontextualitätswandlungen“ gibt. Zu diesem komplexen Themenfeld, wozu z.B. intensiv diskutierte Begriffe wie z. B. „Neue Kulturgeographie“, „Historische Geographie“, „Kulturlandschaftsforschung“ gehören, finden sich in der Dissertation aufschlussreiche Ausführungen. Maus legt Wert auf die Feststellungen, dass in dem von ihm verwendeten Begriff der „Erinnerungslandschaft“ auch das „Alltagsverständnis von Landschaft als materiellem Arrangement“ berücksichtigt ist und historisch-geographische Analysen einen hohen Erklärwert für die Vergangenheit der gegenwärtigen Identitäten und sozialen Zusammenhängen haben.
Aufhorchen lässt folgendes Statement des Verfassers in der Einleitung (S. 8): „Die deutschsprachige Historische Geographie beklagt zu Recht, dass die hiesige Humangeographie im Zuge ihres nachholenden ‚cultural turn‘ die historische Perspektive vernachlässige. Während im englischsprachigen Kontext historisch-geographische Studien immer auch zu den Vorreitern kulturgeographischen Arbeitens zählen, hat hierzulande das Bekenntnis des Fachs zu konstruktivistischen Ansätzen weder zu einer Rezeption historisch orientierter Arbeiten noch zu verstärkter Beschäftigung mit der Vergangenheit geführt. Die Geographische Erinnerungsforschung kann hier eine Brückenfunktion einnehmen. Da sie in erster Linie – wenn auch nicht ausschließlich – gegenwärtige soziale Phänomene der Beschäftigung mit der Vergangenheit thematisiert, ist sie kulturgeographisches (hier wohl im Sinne von aktualgeographisch gemeint! Anm. K.F.) und historisch-geographisches Projekt zugleich“.
Erfreulicherweise beließ Maus es nicht bei dieser knappen Feststellung, sondern er beteiligte sich engagiert an neuesten Aktivitäten der Historischen Geographie in Deutschland. Auf die Initiative der beiden Lehrstühle für Historische Geographie an den Universitäten Bonn und Bamberg hin wurden 2014 in Bonn und 2016 in Bamberg Tagungen zum Themenbereich „Zwischen Geschichte und Geographie, zwischen Raum und Zeit“ durchgeführt, deren Vorträge in der neugegründeten Schriftenreihe „Historische Geographie“ veröffentlicht wurden bzw. werden. Als Thema für seinen Beitrag zur zweiten Tagung wählte Maus bezeichnenderweise: „Erinnerungslandschaften des kalten Krieges. Eine ‚popular historical geography‘?“.
Die geschickte Verbindung von umfassenden wissenschaftstheoretischen Überlegungen und detaillierten praxisorientierten Ausführungen überzeugt an diesem Buch ebenso sehr wie die präzise Darstellung und die klare Gliederung. Es ist darüber hinaus außerordentlich anregend, wobei dieser Aspekt in der Besprechung verständlicherweise nur ansatzweise im Detail behandelt werden konnte.