One
Select issue
Year Issue
Article search ?
Author
Add authorDel author
Keyword
Add keywordDel keyword
Full text

all these words
this exact wording or phrase
one or more of these words
any of these unwanted words
Year
till
 
Two
You are here: Home Archive 2016 Marshall, Tim: Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt

Marshall, Tim: Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt

Book review Erdkunde 70 (3) 2016, 291-293 by Torben Waschke

Marshall, Tim: Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt. 303 S. dtv, München 2015 (2. Auflage), € 22,90,-

„Regierungen kommen und gehen, der Hindukusch bleibt.“ Dieser Ansicht von Tim Marshall ähnlich, zog schon Egon Bahr die Schlussfolgerung: „Geografie und Interessen sind konstanter als kurzlebige Legislaturperioden und ihre Repräsentanten“ (Bahr 2008, 21).
Marshalls Publikation, die in der Bestseller Liste der New York Times rangiert, ist ein Buch am Puls der Zeit, weil es den Blick des Lesers sehr sachkundig auf die Geopolitik der Gegenwart zentriert. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist, vor allem im deutschsprachigen Raum, der Begriff „Geopolitik“ so stark ideologisch belastet, dass er in den langen Jahrzehnten nach 1945 in der Wissenschaft ebenso wie in der Politik und den Medien tabuisiert wurde (Waschke 2016a, 20). Auf insgesamt 303 Seiten und mit Hilfe von zehn physischen Karten, die einmal rund um die Welt führen, versucht der Journalist und anerkannte Experte für Außenpolitik die Weltpolitik zu erklären. Ausgehend von der konkreten Geographie eines Landes, analysiert Tim Marshall wie eminent wichtig diese wissenschaftliche Strömung schon immer für die Bedeutung der Politik war, ist und sein wird. „Mit dem Fortschreiten des 21. Jahrhunderts werden die geographischen Faktoren, die unsere Geschichte mitbestimmt haben, unsere Zukunft weiterhin mitbestimmen“ (S. 284).
An aktuellen geopolitischen Konflikten, wie zum Beispiel in der Ukraine, im Nahen Osten oder bis hin zum Wettlauf um die Bodenschätze im südchinesischen Meer, in Afrika und der Arktis, beleuchtet Marshall, dass Krisengetriebenheit zum neuen Normalzustand wird. In Form eines erfrischend zynischem Realismus und einer bildlich-belebenden Sprache manifestiert die Publikation, dass wir es kaum mehr mit peripheren Krisen zu tun haben, sondern sich die außenpolitischen Szenarien stattdessen durch ein Ineinanderfließen von Krisenlandschaften beschreiben lassen (Perthes 2016, 48). Dabei deklariert der Autor die zentrale Forderung endlich, „die Geographie als maßgeblichen Faktor für den Verlauf der menschlichen Geschichte anzuerkennen“ (S. 13). Marshall kritisiert, dass „die physischen Realitäten, die der nationalen und internationalen Politik zugrunde liegen, zu oft außer Acht gelassen werden“ (S. 8). Mit seinem überzeugenden Erfahrungswissen, welches er sich u. a. in den Krisengebieten Afghanistan und Syrien angeeignet hat, gestattet Marshall einen erhellenden Blick hinter die Kulissen der weltweiten Außenpolitik und versucht so seine Intention zu begründen, „dass geographische Konstellationen tatsächlich geschichtsträchtig sein können“. Ist diese Forderung berechtigt (Brackmann 2016, 57)?
Marshall konstatiert, dass besonders die „arabische Version des Dreißigjährigen Kriegs“ (S. 167) sich mittlerweile in einer „zweiten Phase“ befindet: ein „komplexer interner Kampf innerhalb der Gesellschaft, bei dem Religion, gesellschaftlicher Sittenkodex und Stammesverbindungen […] weit mächtigere Kräfte sind“ als der westliche Normativismus wie Demokratie, Freiheit und Gleichheit (S.182–183). Marshall verdeutlicht, welche gravierenden Folgen sich aus einer fatalen Großmachtpolitik vom sog. Sykes-Picot-Abkommen heute generieren, wenn eine Grenzziehung ohne Berücksichtigung historischer, ethnischer und geographischer Aspekte erfolgt. Nach seiner Auffassung erscheint die Zukunft des Nahen Osten alles andere als klar, als würde sie ständig hinter dem Horizont der Ungewissheit verschwinden. „Weiße Flecken, die Gesetzlosigkeit [und einen Schandfleck auf dem Gewissen der Weltpolitik] symbolisieren, breiten sich über immer größere Teile der [nordafrikanisch-geographischen] Landkarte aus“ (Kissinger 2016, 167–168). Eine Region, in der nach dem Ersten Weltkrieg weniger Grenzen existierten als heute, wird der Versuch unternommen, „sie mit Blut neu zu ziehen“ (S. 152), so Marshall. Die Konflikte reihen sich aneinander wie „Perlen auf der Kette“ (Lüders 2012, 127) und könnten einen „Domino-Effekt für andere Länder“ (S. 93) bzw. einen erheblichen Zündstoff für zukünftige militärische Auseinandersetzungen implizieren. „Der Nahe Osten zerfällt“ (Dittmann 2014, 50).
Diametral zur Kriegsgeneration im Nahen Ostens ist die europäische Nachkriegsgeneration hingegen mit einer „bisher einmaligen, über 65 Jahre währende Friedensperiode“ (S. 119) gesegnet. Marshall vertritt die Auffassung, dass sich die westeuropäische Gesellschaft militärische Konflikte heute kaum mehr vorstellen kann, der „Frieden die Norm ist“ (S. 107) und dadurch eine mangelnde Bereitschaft entstanden ist sich aktiv für den hart erarbeiteten Frieden einzusetzen. „Als Ergebnis durchläuft die Europäische Union eine Prüfung ihrer Legitimität“ (Kissinger 2016, 108), die kumulativ durch eine stetige Zunahme des nationalen Rechtspopulismus gefährdet wird. „Inzwischen gibt es in Europa eine reale Kriegsgefahr“ (Platzeck 2016). Den Skeptikern eines geeinten Europas antwortet der ehemalige Europa-Korrespondent mit Helmut Kohls Parole: „Frieden“ (S. 119). „Wer […] den Krieg mit all seinen Schrecken und seiner Not erlebt hat, kann aus eigener Erfahrung ermessen, welchen Wert das geeinte Europa für Frieden und Freiheit hat“ (Kohl 2010; Marshall 2015, 118).
Doch in Marshalls Ausführungen lassen sich auch einige eklatante Kritikpunkte feststellen. Einen entscheidenden Fehler den er über die gesamte Lektüre begeht ist, dass die Termini „Geographie“ und „Geopolitik“ umstandslos miteinander vermengt werden. Zu wenig und unscharf differenziert Marshall unbestreitbare physische Gegebenheiten von geopolitischen Einflussfaktoren. Die Geopolitik zeigt unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren, wie zum Beispiel Demografie, divergierenden Kulturregionen, natürlichen Ressourcen, historischen Entwicklungen und den nationalen Interessen, auf wie internationale Angelegenheiten zu verstehen sind. „Es ist immer eine Konstellation zwischen geografischen Gegebenheiten einerseits und dem, was Menschen und Staaten andererseits daraus machen“ (Brackmann 2016, 57). Versuche dies auszublenden, würden im Resultat einen limitierten Aussagecharakter besitzen (Waschke 2016a, 20).
Darauf aufbauend versucht Marhsall als maßgeblichen Faktor für das gesamte Weltgeschehen einzig allein die „ehernen Regeln der Geographie“ (S. 13) in Betracht zu ziehen. Mit diesem fast schon monopolarartigen Anspruch oktroyiert Marshall dem unbegrenzten Maß der Realität reduzierende Grenzen auf.
Zudem müssen seine subjektiven Konstellationen zu den jeweiligen Länderanalysen als Teil innerhalb eines konstruktivistischen Kontextes betrachtet bzw. in Relation zu unterschiedlichen „Wahrheiten“ begriffen werden. So bezeichnet er unter anderem die abkühlenden Beziehungen zwischen Russland und dem Westen als Fakt eines „neuen Kalten Kriegs“ (S. 38, 278). Diese Meinung entspricht eher einer rein stereotypisch-plakativen Betrachtungsweise. Nicht nur nach Kissinger (2016) konkurrieren heute zahlreiche gleichrangige Mächte auf unterschiedlichen Ebenen miteinander, während zu Zeiten des Kalten Krieges die Geschicke der Welt lediglich von zwei sich gegenüberstehenden Systemen bestimmt wurden. Zusätzlich stellt Marshall zwar richtig fest, dass sich Russland explizit – wie alle übrigen bedeutenden Spieler implizit – in Zukunft „vielen Herausforderungen stellen muss“ (S. 19). Dazu gehört aber gewiss nicht die niedrige „Lebenserwartung russischer Männer“ (S. 43), aufgrund des hohen Alkoholkonsums, als eines der eminenten Probleme. Aktuell besteht in Russland eher die Gefahr darin, dass sich ein innenpolitischer Disput zwischen der zukünftigen Aufgabe einer humanitären und legitimen Staatsordnung auf der einen Seite und den gegenwärtigen Sicherheitsinteressen auf der anderen Seite generiert (Waschke 2016b, 19).
Insgesamt lassen sich in „Die Macht der Geographie“ einige Parallelen zu Henry Kissingers „Weltordnung“ erkennen, die in den Anregungen von einer neuen geopolitischen Aufteilung der Welt ausgehen. Marshall betont dabei nicht nur, dass „Geopolitik auch im 21. Jahrhundert noch existiert“ (S. 31), sondern er schließt ebenfalls an die Worte von Michail Gorbatschow an, dass wir durch eine Verschärfung geopolitischer Ambitionen „das schwere Erbe des 20. Jahrhunderts noch nicht überwunden haben“ (Gorbatschow 2015, 366). „Jede Nation stellt die eigenen Interessen an die erste Stelle, wenn sie Außenpolitik betreibt. […] Keine Regierung wagt, auf kurze oder lange Sicht, Dinge zu tun die zum Nachteil für das Wohl dieses Landes sind, das sie regiert“ (Kissinger 2016, 229–231). Sowohl für die Vergangenheit, als auch für die Gegenwart und Zukunft lässt sich zusammenfassend Tim Marshalls zentrale Conclusio nicht leugnen: „Die Geopolitik betrifft alle Länder“(S. 11).

Torben Waschke

 

Literatur

Bahr, E. (2008): Geleitworte. In: Schneider-Deters, W., Schulze, P. W. and Timmermann, H. (eds.): Die Europäische Union, Russland und Eurasien. Rückkehr der Geopolitik. Berlin, 19-23.

Brackmann, M. (2016): Begrenzte Macht des Faktischen. In: Handelsblatt 25, 57.

Dittmann, A. (2014): Der Nahe Osten zerfällt. Zur historisch-politischen Geographie des Raumes zwischen Levante und Mesopotamien. In: Geographische Rundschau 10, 50–57.

Gorbatschow, M. (2015): Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin. Köln.

Kissinger, H. (2016): Weltordnung. München.

Kohl, H. (2010): Meinung. Warum wir Griechenland helfen müssen. http://www.welt.de/debatte/kommentare/article7534357/Warum-wir-Griechenland-helfen-muessen.html (Datum: 21.06.2016).

Lüders, M. (2012): Iran: der falsche Krieg. Wie der Westen seine Zukunft verspielt. München.

Perthes, V. (2016): Wege in der Krisenlandschaft. In: Handelsblatt 7, 48.

Platzeck, M. (2016): Das Ende der Romantik. http://www.mdz-moskau.eu/das-ende-der-romantik/ (Datum: 10.06.2016).

Waschke, T. (2016a): Russland: Ein geopolitischer Diskurs im Wandel. Berlin.

Waschke, T. (2016b): Leserbrief. Stabiles Russland ist im Interesse des Westens. In: Frankfurter Rundschau 109, 19.

 

Document Actions