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Gorbatschow, Michail: Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin

Book review Erdkunde 70 (2) 2016, 197-199 by Torben Waschke

Gorbatschow, Michail: Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin. 559 S. Quadriga, Köln 2015, € 25,-

„Russland ist ein Rätsel in einem Geheimnis, umhüllt von einem Mysterium.“ Wie oft werden diese berühmten Worte von Winston Churchill unvollständig zitiert, wenn man die neue, alte Großmacht zu verstehen versucht. „Doch vielleicht gibt es einen Schlüssel“, folgert Churchill (Fasbender 2014, 9–10; Marshall 2015, 18). Und in der Tat, Gorbatschows aktuelles Buch ist sein persönlicher Schlüssel, der einen Zugang zur geheimnisvollen „russischen Seele“ historisch und innen- wie außenpolitisch eröffnet. Vor allem aus der Sichtweise einer diskursanalytischen Herangehensweise erscheint die Publikation für die anthropogeographische Teildisziplin „Politische Geographie“ interessant, weil wesentliche Aspekte im kontextgebundenen Spannungsfeld von Gesellschaft, Raum und Machtwirkungen tiefgreifend thematisiert werden (Waschke 2016, 17–18).
Beginnend mit der Post-Perestroika Epoche beleuchtet Gorbatschow seine persönliche Sicht der Dinge über die Schicksalsjahre und Zeiten der Wirren in den 1990er Jahren. Das zweite Hauptkapitel widmet er der widersprüchlichen Putin-Ära I, den er während der Präsidentschaft Medwedew für den wahren „Autor der russischen Geschichte“ (S. 327) hält. Ein Blick in „die beunruhigende neue Welt“ (S. 352) nimmt die größte Gewichtung seines persönlichen – aber nicht wissenschaftlichen – Werkes ein. Der Fokus, den Gorbatschow hier wählt, stellt die gegenwärtigen außenpolitischen Konflikte einerseits und andererseits die innenpoltische Zukunft Russlands dar, welches den sozialdemokratischen „Weg der Freiheit beschreiten muss“ (S. 534).
Der sowjetische Reformer kritisiert zu Recht die willkürliche Präsidentschaft Jelzins und seiner Radikal-Liberalen Entourage und rechnet mit ihr gnadenlos ab. Gorbatschow, ein Mann der sein Land so veränderte wie wohl kaum ein Mensch zuvor und dafür als „Totengräber der Sowjetunion“ denunziert wird, bezichtigt Jelzin als den wahren Zerstörer (Genscher 2015, 137). Ähnlich wie Putin, der den Untergang der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe“ (Putin 2005) bezeichnete, hält auch Gorbatschow den Zerfall der Sowjetunion für den „größten strategischen Fehler“ (S. 58), der durch die Putschisten widerrechtlich ausgelöst worden sei. Eine abenteuerliche Schocktherapie (S. 75), ein bedenkenloses Folgen westlicher Rezepte, ohne die eigenen Besonderheiten und Traditionen zu berücksichtigen (S. 122) und Wahlmanipulationen, worüber der Westen im Gegensatz zu heute eindrucksvoll geschwiegen habe (S. 164), hätten die Entwicklungen Russlands in den 90er Jahren bestimmt und einen „irreparablen Schaden“ (S. 78) an den demokratischen Glauben angerichtet (S. 179). Gorbatschow reflektiert, dass Jelzins Verfassungsreform der politische Wegbereiter eines superpräsidialen Autoritarismus gewesen sei. In Kombination mit der besonderen Einstellung zur höchsten Macht, die dem russischen Nationalcharakter zu Eigen sei (S. 113), habe Jelzin eine gefährliche Perspektive eröffnet, die sich Putin heute mehr denn je zu Nutze mache, getreu der russischen Losung: „Alles bewegt sich im Rahmen der Verfassung, aber nicht im Geiste der Demokratie“ (S. 270–271).
Mit geringer Selbstkritik macht Gorbatschow Jelzin für die „Parade der Souveränitäten“ (S. 133) verantwortlich, vergisst aber gleichzeitig zu erwähnen, dass er derjenige war, der mit der Abkehr von der „Breschnew-Doktrin“ die Initialzündung für die Unabhängigkeitsbestrebungen in Osteuropa veranlasste. Im Kontext der damaligen Entwicklungen räumt Gorbatschow eine gewisse realpolitische Naivität ein, betont aber, dass die Sowjetunion in einer demokratischen Gestalt noch existieren würde, wenn es nicht zum Augustputsch gekommen wäre. Zur Begründung dieser These lässt Gorbatschow jedoch andere eminente Ursachen, die zum Zerfall der Sowjetunion mit beigetragen haben, außen vor (Waschke 2016, 27–28).
Eine gewisse Leichtgläubigkeit zeigt sich auch in seiner anfänglichen innenpolitischen Begeisterung gegenüber Putin. Im Gegensatz zur Ära Jelzin unterstützte Gorbatschow die politische Linie des neuen Präsidenten lange uneingeschränkt (S. 197, 217, 233, 247). Was im Westen als Willkür und Autoritarismus angesehen wird, galt in Russland als elementare Notwendigkeit für eine funktionierende Staatsführung (Kissinger 2016, 70). Putin, der einen Zustand der Anarchie erbte (S. 232), habe den Menschen ihre Würde zurückgegeben und verhinderte den Zerfall des Landes, so Gorbatschow (S. 190, 262).
Doch im Laufe der Entwicklung weicht diese enthusiastische Euphorie immer mehr in Richtung bitterer Enttäuschung, obwohl Gorbatschow Putin namentlich eher selten nennt und eine imaginäre Machtelite dafür verantwortlich macht. Zur ewigen Wahrung des eigenen Machtmonopols lähme die Putinsche Machtvertikale wie ein Krebsgeschwür, dessen Metastasen den ganzen politischen Körper befallen hätten, das öffentliche Leben. Der „Konservatismus wird als eine Art Allheilmittel“ (S. 502) auf ein Podest gehoben und baue auf die Apathie einer passiv gestimmten schweigenden Zivilgesellschaft (S. 340, 518), in der „das Erbe des Totalitarismus in den Traditionen, Köpfen und Sitten äußerst tief verankert“ (S. 47) sei und die „Angst vor allem Neuen“ (S. 24) habe. Ein System ohne Zukunft versuche der Gesellschaft eine Zwangsjacke überzustülpen, z. B. durch ein in Reagenzgläsern künstlich geschaffenes Parteiensystem (S. 213), das die Grundfreiheiten und das bürgerliche Engagement immer mehr beschränke (S. 345).
Noch ein Aspekt aus Gorbatschows lesenswertem Buch, der den Russland-Diskurs belebt, ist seine kontinuierliche außenpolitische Unterstützung für Putin. Gorbatschow lässt seinen persönlichen Empfindungen gegenüber dem unverhohlenen Zynismus des Westens und besonders gegenüber den USA freien Lauf und pocht förmlich auf die Russland gebührende Hochachtung. Obwohl alle russischen Präsidenten wichtige Chancen und Schritte in Fragen der gemeinsamen Sicherheit eröffnet hätten, sei die russische Stimme im Westen auf taube Ohren gestoßen. Besonders die beständige Erweiterung der NATO widerspreche dem Geist der Vereinbarungen, nicht zu einem militärischen Übergewicht zu gelangen. Hinter der Fassade der Freundlichkeit und Partnerschaft habe sich eine Politik verborgen, die darauf abzielte, Russland als Außenstehenden in einem halb erstickten Zustand zu isolieren und auf Dauer in der Weltpolitik im Abseits zu halten. Dabei sei eine Zusammenarbeit mit Russland in den wichtigsten militärischen und politischen Fragen, besonders in Bezug auf die aktuellen regionalen Probleme, unerlässlich. Gorbatschow mahnt, dass der Konflikt eine Situation geschaffen habe, die jeden Moment eskalieren, in eine regionale Explosion münden und die Welt an den Rand einer großen Katastrophe bringen könne. Er betont, dass die Vergangenheit mit dem Brudervolk über viele Fäden mit der Gegenwart verbunden sei und die Krise einen ernsthaften und gefährlichen Sturzflug der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen provoziert habe. Vor diesem Hintergrund kann es kaum erstaunen, dass Michail Gorbatschow den Westen auffordert, nicht mit dem Feuer zu spielen und dass jeder Druck auf Russland nichts außer Schaden bringe (S. 261). „Wie die Flut an der Küste eines Meeres“ (Kissinger 2016, 64) wird sich Russland als Großmacht wieder erheben, ohne das eine Weltordnung nicht denkbar sei, schlussfolgert Gorbatschow (S. 57, 426).
Sein innenpolitisches Credo lautet, dass Russland eine Demokratie „à la russe“ (Bahr 2015, 183) entwickeln müsse, die auf einer Synthese von kulturellen Eigenheiten, nationalen Traditionen und Werten aufbaue, die die Prüfung und Auslese im historischen Kontext überstanden hätten (S. 203, 518). Mit der Perestroika und Glasnost, einer der wichtigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, deren Bedeutung dem russischen Volk noch gar nicht bewusst geworden wäre (S. 22), sei ein Veränderungsprozess vorangeschritten, hinter dem es keine Rückkehr in die geistigen Fesseln einer totalitäre Vergangenheit geben werde (S. 313).
Gorbatschows persönlicher Schlüssel „zum Aufbau eines neuen Russlands“ (S. 326) ist ein sehnsüchtiger Ruf nach innenpolitischer Sozialdemokratie und außenpolitischer Renaissance zu den grundlegenden Postulaten des „Neuen Denkens“ (Gorbatschow et al. 1997). Präsidenten, Regierungen, sie alle kommen und gehen letzten Endes, aber Russland wird bleiben und die Interessen müssen für uns wichtiger sein als alles andere (S. 119), konstatiert der Friedensnobelpreisträger. „Dieser Schlüssel ist das russische nationale Interesse“, diese veritable Quintessenz offenbarte schon Churchills vollständiger Aphorismus (Fasbender 2014, 10; Marshall 2015, 18–19).

Torben Waschke

 

 

Literatur
Bahr, E. (2015): Ostwärts und nichts vergessen. Politik zwischen Krieg und Verständigung. Freiburg.
Fasbender, T. (20142): Freiheit statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusionen des Westens. Waltrop.
Genscher, H. D. (2015): Meine Sicht der Dinge. Berlin.
Gorbatschow, M. S.; Sagladin, V. und Tschernjajew, A. (1997): Das Neue Denken. Politik im Zeitalter der Globalisierung. München.
Kissinger, H. (2016): Weltordnung. München.
Marshall, T. (2015)²: Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt. München.
Putin, W. W. (2005): Jährliche Ansprache an die Bundesversammlung der Russischen Föderation. Abrufbar unter: http://eng.kremlin.ru/transcripts/7863; http://www.kremlin.ru/transcripts/22931 (Datum: 28.01.2015).
Waschke, T. (2016): Russland: Ein geopolitischer Diskurs im Wandel. Berlin.

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