Book reviews 2013 [4]
Herrmann, Heike; Keller, Carsten; Neef, Rainer und Ruhne, Renate (Hg.): Die Besonderheit des Städtischen. Entwicklungslinien der Stadt(soziologie). 344 S., 7 Abb. und 9 Tab. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, € 34,95
Schon seit langem setzt sich die Soziologie mit ihrem Verhältnis zur Stadtforschung auseinander. Der vorliegende Band, der auf Vorträge der Jahrestagung der Sektion „Stadt- und Regionalsoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zurückgreift, versucht dieses Verhältnis nicht nur im Sinne einer Standortbestimmung einer ihrer traditionsreichsten „Bindestrich-Soziologien“ darzulegen, sondern erhebt zugleich den Anspruch, die über die einzelne Disziplin hinausreichende „Besonderheit des Städtischen“ zu erfassen. Um es vorwegzunehmen: Der Sammelband ist für Geographen insgesamt lesenswert, auch wenn die Geographie fachlich kaum davon profitieren wird. Lesenswert ist der Sammelband deshalb, weil die einzelnen Beiträge davon zeugen, wie vehement die Stadtsoziologie innerhalb der eigenen Disziplin um Anerkennung ringt; einzelne Beiträge gehen zudem durchaus kritisch mit neueren Ansätzen der Stadtsoziologie um, was aus diskurstheoretischer Sicht ebenfalls zu lesen lohnenswert ist. Den formulierten Anspruch, die „Besonderheit des Städtischen“ (also nicht der Stadtsoziologie) zu erfassen oder gar zu erklären gelingt dagegen nicht, denn die einzelnen Beiträge versäumen es, Stadtforschung als interdisziplinäre Forschung zu begreifen und Erkenntnisse aus anderen Disziplinen (und dazu gehört insbesondere auch die Geographie) strukturiert zu berücksichtigen.
Der Band ist in drei Teile gegliedert. Kapitel 1 überschreibt sich mit „Das Städtische: zentrale Perspektiven“, fokussiert aber tatsächlich auf nur drei Interpretationsangebote (die hier aus Argumentationsgründen nicht der Reihe nach dargestellt werden). Der Beitrag von Thomas Krämer-Badoni „Die Klassiker der Soziologie und die Besonderheit des Städtischen“ bietet eine Neulesung von Klassikern der Soziologie an, denen gemeinsam ist, dass die Besonderheit des Städtischen nicht die Stadt ist, „sondern eine der Gesellschaft, die ihrerseits die Stadtwahrnehmung strukturiert. Die Stadt ist eine Besonderheit der Gesellschaft.“ (S. 70). Mit Rückgriff auf seinen 1991 veröffentlichten Text zur Stadt als sozialwissenschaftlichen Gegenstand erläutert Krämer-Badoni anschließend, in welchen Kontexten Marx, Weber, Simmel, Park und Wirth dieses Stadtverständnis begründet haben und plädiert (erneut) für seinen bereits 1991 dargelegten „historisch geprägten“ Stadtbegriff, „der als städtische und zu erforschende Problemlagen die Probleme begreift, die in den jeweils spezifischen historischen Situationen als städtische Problemlagen definiert werden.“ (S. 78). Dass Krämer-Badoni nach 20 Jahren Stadtsoziologie auf diese weitgehend unveränderte Argumentation zurückgreift, mag auf den ersten Blick verwundern und die Frage gestatten, ob er denn zwischenzeitlich geführte Debatten übersehen habe; doch stellt sich im Fazit seines Beitrages heraus, dass dieses Übersehen programmatisch ist: Denn Krämer-Badoni verortet die erneute Suche nach der Besonderheit des Städtischen als einen Ausdruck einer nach dem Ende der marxistisch orientierten Sozialforschung bis heute immer stärker zum Ausdruck kommenden „Unzufriedenheit mit einer gesellschaftstheoriefreien Soziologie, mit der vorgeblich ideologiefreien quantitativen Empirie“, die in dem Maße „wieder wächst, in dem dieser Wissenschaftstypus die Soziologie beherrscht, ohne aber hinreichend triftige Interpretationen gesellschaftlicher Zusammenhänge formulieren zu können.“ (S. 82) Als eine „Chance, sich aus der theoriefreien Empirie zu lösen und einen gesellschaftstheoretisch begründeten Stadtbegriff zu entwickeln“ (ebd.), sieht Krämer-Badoni den Versuch von Martina Löw, einer Eigenlogik der Städte nachzuspüren, denn „nach dieser Theorie hat jede Stadt „ihre ‚Biographie’‚ ihre Eigenarten, ihren Charakter, die das Leben der Bürgerinnen und Bürger einer Stadt je spezifisch beeinflussen.“ (S. 71). Das Besondere des Städtischen wird so aufzulösen versucht in die Besonderheiten einer jeden Stadt.
Insofern ist es folgerichtig, dass es Martina Löw ist, die einen weiteren Beitrag über „Städte als sich unterscheidende Erfahrungsräume. Grundlagen für eine sinnverstehende Stadtsoziologie“ zum ersten Teil des Sammelbandes liefert. Ihr Konzept der Eigenlogik von Städten will dazu beitragen, „endogene Potentiale sinnverstehend zu rekonstruieren“ (S. 52). Denn in Städten „entwickeln sich kollektive und zeitlich überdauernde Sinnhorizonte, die Handeln auf spezifische Weise nahelegen.“ (ebd.) Um das zu verdeutlichen, zieht Martina Löw Ergebnisse der „Darmstädter Eigenlogik-Studien“, zur „Struktur des Fühlens“ in Darmstadt sowie eine Studie zum Erleben und Erfahren von „Schwarzsein als kollektive Praxis“ in Salvador da Bahia (Brasilien) bei. Für Geographen wird es an dieser Stelle angesichts des Wissensbestandes, der sich vor allem seit den 1970 Jahren ansammelte, weitgehend uninteressant. Vermisst werden Bezüge z.B. zur „humanistic geography“ (z.B. Ley and Samuels 1978) oder der Wahrnehmungsgeographie (wie sie z.B. seit den 1980er Jahren am Geographischen Institut der Universität Oldenburg im Rahmen einer eigenen Reihe publiziert werden); nicht beachtet wird auch die gesamte Debatte in der Geographie, die sich von (neo)phänomenologischer Perspektive an den Gegenstand Stadt annähert (wie z.B. in den Arbeiten von Jürgen Hasse) und zu einer Hermeneutik der Stadt beitragen könnte. Die Frage steht sogleich im Raum, warum Martina Löw derart elegant über die Beiträge aus der Geographie hinwegsieht – eine Frage, an der bereits Gerhard Hard 2008 verzweifelte und ihn zur Bemerkung des „semantischen Schwindelgefühls“ verleitete, das ihn ergreife, wenn er mancherlei soziologische Raumbetrachtung seit dem spatial turn lese. Doch auch Querverweise auf die Emotionsforschung in der Soziologie (z.B. Flamm 2002) bleiben aus und der Lesende erhält den Eindruck, dass jede Soziologin, jeder Soziologe die Stadt ohne Beachtung des Standes interdisziplinären Wissens neu erfinden möchte. Die von Läpple (1991) konstatierte „Raumblindheit der Soziologie“ könnte sich letztlich auch als eine „Disziplinenblindheit der Soziologie“ herausstellen.
Dass der von Martina Löw verwendete Raumbegriff von Jürgen Friedrichs (der den dritten Beitrag im Eröffnungskapitel unter dem Titel „Ist die Besonderheit des Städtischen auch die Besonderheit der Stadtsoziologie?“ verfasst hat) als „übermäßig kompliziert und auch nicht konsistent“ (S. 35) kritisiert wird, zeigt die Variationsbreite stadtsoziologischer Ansätze. Es sei – so Friedrichs – eben nicht der Raum, der die soziologische Sicht auf die Stadt ausmacht, sondern „wie sich soziales Verhalten und die soziale Organisation der Gesellschaft im Raum niederschlägt“ (S. 36). Den geographisch sozialisierten Lesenden könnte an dieser Stelle Wolfgang Hartkes Beitrag zur Sozialgeographie in Erinnerung gerufen werden, in der er 1959 in nahezu gleichem Wortlaut von der Landschaft (anstelle von Stadt) als Ergebnis menschlichen Lebens und Handelns schrieb und zur Suche von gesellschaftlichen Spuren im Raum aufrief.
Friedrichs schlägt in der Folge einen auf der rational-choice-Theorie aufbauenden handlungstheoretischen Weg ein und von der Stadt als Opportunitäts- und Restriktionsstruktur: Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt etc. böten Möglichkeiten (aber auch Einschränkungen) und diese könne man zwischen Städten vergleichend interpretieren oder die ihnen inhärenten Substrukturen analysieren, die sich durch die unterschiedlichen Stadtgrößen ergeben (S. 37). Die Stadt derart zu denken, mündet bei Diversitätskonzepten, womit Friedrichs seinen Theoriestrang mit Bezug auf Wirths Konzept von Heterogenität als Merkmal von Stadt ausweist (Wirth 1938). Hier ortet Friedrichs Forschungspotenzial für eine Stadtsoziologie, die sich mit dem Besonderen des Städtischen auseinandersetzen will und gleichsam aktuelle Stadtplanungsideale hinterfragen möchte. Denn „mit dem Konzept der Diversität ist die Idee und Strategie des sozialen Mix eng verbunden“ (S. 41). Damit gelingt es Friedrichs, seine eigenen – und nicht nur für die Soziologie wertvollen – empirischen Arbeiten zu Differenzierungsprozessen in Städten an heutige Fragestellungen anzukoppeln. Damit wird gleichsam die Frage nach der Wesensbestimmung von Raum sekundär, denn für diese Forschungsperspektive ist der Raum insbesondere ein physischer und wahrgenommener Raum.
Stellt Teil I eher auf die Reformulierung bekannter Positionen ab, sammeln die drei weiteren Kapitel „(Neue) Städtische Kulturen“, „Umkämpfte Räume“ und „(Innen-)Stadtquartier und Suburb“ rund ein Dutzend Beiträge von Autorinnen und Autoren, die sich gegenwärtig in den stadtsoziologischen Themenfeldern verorten, indem sie beispielsweise auf aktuelle Debatten eintreten (z.B. Silke Streets und Joachim Thiel mit Auseinandersetzungen über die Thesen des Ökonomen Richard Florida oder Andrej Holm und Tim Butler über Gentrifizierung am Beispiel Berlin bzw. London) oder mittels mikrosoziologischen Studien Phänomene wie Migration (Erol Yildiz), Suburbanisierung bzw. suburbane Räume (Susanne Frank, Marcus Menzel) zu erläutern versuchen. Daraus entsteht ein kleiner Einblick in das breite Schaffen einer Disziplin, die sich mit Stadt und Städtischem beschäftigt.
Heike Herrmann, die es für die Herausgebenden übernimmt, das Schlusskapitel zu verfassen, ist sich der kohärenten Wirkung des Sammelbandes nicht sicher, und insofern ist der Titel ihres Beitrages „Von der ‚Krise der Stadt’ zur ‚Stadt des Sowohl – als auch’“ sehr symptomatisch für ihre Feststellung, dass „Versuche, dieses äußerst komplexe Gebilde (Stadt, Anm. M.D.) zu charakterisieren, ebenso ambivalent ausfallen, wie der Gegenstand selbst ambivalent zu sein scheint.“ (S. 322). Wie selbstverständlich diese Aussage, mag man denken, denn Ambivalenz und Komplexität sind ja Begründungszusammenhänge für wissenschaftliche Tätigkeiten. Diese Komplexität und Ambivalent versucht Herrmann in der Methapher der Stadt als „entweder – oder“, „und“ oder „sowohl – als auch“ einzufangen. Damit allerdings – so räumt die Autorin ein – „ist kein neues Modell von Stadt entworfen. Es handelt sich lediglich um eine weitere Perspektive, die der Stadt ‚als Raum der Möglichkeiten’ oder einer ‚Stadt der Kreativen’ hinzugefügt werden soll.“ (S. 336). Ob damit das Besondere der Stadtsoziologie oder gar des Städtischen erfasst werden kann, sei den interessiert Lesenden selbst überlassen.
Literatur
Flam, H. (2002): Soziologie der Emotionen. Konstanz.
Hard, G. (2008): Der spatial turn, von der Geographie her beobachtet. In: Döring, J. und Thielmann, T. (Hg.): Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Berlin, 263–316.
Hartke, W. (1959): Gedanken über die Bestimmung von Räumen gleichen sozialgeographischen Verhaltens. In: Erdkunde 13, 426–436. DOI: 10.3112/erdkunde.1959.04.13
Krämer-Badoni, T. (1991): Die Stadt als sozialwissenschaftlicher Gegenstand. In Häussermann, H.; Ipsen, D.; Krämer-Badoni, T.; Läpple, D. und Rodenstein, M.: Stadt und Raum. Soziologische Analysen. Pfaffenweiler, 1–27.
Läpple, D. (1991): Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept. In: Häussermann, H.; Ipsen, D.; Krämer-Badoni, T.; Läpple, D. und Rodenstein, M.: Stadt und Raum. Soziologische Analysen. Pfaffenweiler, 157–207.
Ley, D. and Samuels, M. S. (eds.) (1978): Humanistic geography. Prospects and problems. London.
Wirth, L. (1938): Urbanism as a way of life. In: American Journal of Sociology 44, 1–24.
Acemoglu, Daron und Robinson, James, A.: Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut. 608 S., 20 Karten und 26 schw/w Photos. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013, € 24,99
Entgegen der Erwartungen, die der Haupttitel vielleicht wecken mag, handelt das Buch nicht von Weak States oder Failed States, wie auch der 2012 erschienene englische Originaltitel „Why Nations Fail“ vermuten lassen könnte, sondern von den Gesetzmäßigkeiten der Entstehung von Armut und Reichtum. Die Autoren gehen davon aus, dass die Grundvoraussetzungen für die Herausbildung ökonomisch leistungsfähiger Systeme vor allem in der Verteilung der Machtinstitutionen innerhalb von Staaten lägen. Herrschaftsgebilde, in denen die Regierungen vom Volk eingesetzt und kontrolliert würden und wo nicht vorwiegend Staatsinstitutionen die ökonomische Regie führen, sondern aktive Teile der Bevölkerung, welche keine Bevormundungen und Einschränkungen staatlicherseits zu erfahren oder zu befürchten hätten, seien zukunftsfähig weil wirtschaftlich erfolgreich und demgegenüber autoritäre Regime immer zum Scheitern verurteilt. Zur Untermauerung dieser These werden verschiedenste Beispiele aus Raum und Zeit herangezogen und in eigentlich historisch-geographischer Manier, jedoch weder in Theorie noch Fallbeispielen geographische Konzepte wahrnehmend, welterklärerisch dargeboten, warum etwa die Maya-Stadtstaaten scheiterten, der Staat der Kuba im Kongo nur zeitlich begrenzt funktionierte, der europäische Kolonialismus kollabierte, das Stalin-Regime zusammenbrach oder wegen „Armut verursachender Institutionen“ heute Entwicklungshilfe nicht funktionieren kann. Zentrale Begriffe sind bei Acemoglu und Robinson die sog. „inklusiven politischen Institutionen“, welche im Gegensatz zu „extraktiven Wirtschaftsinstitutionen“ stehen und über das Vorhandensein oder die Abwesenheit von ökonomischem Erfolg entscheiden. Als gelungene Ökonomien werden durchgehend Großbritannien und die USA herangezogen, während der Europäischen Union immerhin ein Evolutionsgrad vergleichbar dem der gerade unabhängig gewordenen neuen Vereinigten Staaten von Amerika zwischen 1771 und 1778 bescheinigt wird.
Angesichts der Tatsache, dass das anzuzeigende Werk auf dem Cover des Schutzumschlages von nicht weniger als sechs Nobelpreisträgern für Wirtschaftswissenschaften rundweg gelobt wird und sogar einer der Autoren (Daron Acemoglu) selbst schon als ein potentieller weiterer Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften gehandelt wird, müsste demütige Bescheidenheit eigentlich darauf verzichten, auch einen kritischen Blick hinter die Kulissen der durchweg radikal, stark vereinfachend und darin ebenso monokausal wie alternativlos vorgetragenen Erklärungsargumente zu werfen. Solche Demut mag dem Leser jedoch streckenweise abhanden kommen, wenn er im Text verzweifelt nach einer angebotenen plausiblen Erklärung für die Entstehung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise sucht oder einfach nur nach Angaben dazu, ob sie denn nun vorüber sei oder nicht und wieso sie überhaupt entstand. Die Autoren schweigen sich dazu aus und flüchten stattdessen in den vergangenen, historisch belegbaren Kontext. Schade, hätte man doch gerade von ihnen aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Weltkrisenerklärungen erwartet. Vielleicht reagieren aber vor allem geographisch vorbelastete Leser etwas zu emotional, nur weil an unzähligen Stellen im anzuzeigenden Werk geradezu gebetsmühlenartig immer wieder betont und im Kapitel über die „Geographie-Hypothese“ (S. 75–84) näher ausgeführt wird, dass die festgestellten Befunde, d. h. Unterschiede in der wirtschaftlichen Potenz von Staaten, mit geographischen Gesichtspunkten (gemeint sind so vernachlässigenswerte Größen wie Klima, Relief oder Ressourcenausstattung) absolut überhaupt nichts mit ökonomischem Erfolg zu tun hätten. Während sich selbst in Geographie-Theorien Bewanderte noch fragen, welches denn die „Geographie-Hypothese“ eigentlich sei und auf wen sie zurückgehe, was schwer fällt, weil in den neuen Seiten dazu nicht eine einzige (!) Literaturangabe gemacht wird, und sich der kartographisch Vorbelastete ggf. noch darüber ärgert, dass die sog. Karten zur Verbreitung von domestizierten Pflanzen und Tieren im gleichen Kapitel die Bezeichnung „Karte“ eigentlich gar nicht verdienen, wird auf vergleichbarem Kompetenzniveau im anschließenden Abschnitt nach einem Verriss sämtlicher Ideen von Max Weber schließlich auch noch eine vermeintlich existierende Kultur-Theorie geschlachtet. Diese wird das aber möglicherweise gar nicht so brutal empfinden, weil es sie schlicht und einfach so nicht gibt. Ebenso mag es sich mit der im Anschluss daran strapazierten, angeblich weit verbreiteten „Ignoranz-Hypothese“ verhalten, die angeblich davon ausgeht, dass Staatslenker südlicher Länder schlicht nicht wüssten, wie man erfolgreich wirtschaftet. Sehr viel konkreter wird das Theoriengebäude dazu allerdings nicht, so dass sich selbst die Autoren schließlich fragen müssen „Kann die Ignoranz-Hypothese die Weltungleichheit erklären?“ (S. 93).
Das Buch erschien zweifellos etwas zu früh. Gerade am Morgen des Beginns der Arabellionen, haben sich daher in der offenbar hastig aktualisierten Einleitung deutliche Fehleinschätzungen der Ursachen der Rebellionen in der Arabischen Welt eingeschlichen. Wenn in diesem Zusammenhang etwa verallgemeinernd konstatiert wird, dass das Leitmotiv der Aufstandsbewegungen die ungleiche Verteilung von Armut und Reichtum in den arabischen Ländern gewesen sei, dann trifft dies auf Tunesien, Jemen und in gewissem Maße auch auf Ägypten und Syrien zu, kann aber im saudi-arabischen oder libyschen Kontext nur als grundfalsch eingestuft werden. Darüber hinaus fällt allgemein auf, dass auch bekannte Theoriengebäude, die jedoch kaum direkt in die Erklärungsmodelle der Autoren passen, nicht genannt, geschweige denn diskutiert werden. Dies gilt sogar auch für die Kollaps-Theorie von Jared Diamond, der ja am gleichen Beispiel (Maya) wie das vorgelegte Werk arbeitete; er wird in Why Nations Fail auch zitiert, allerdings ausschließlich mit anderen Titeln als denen zum Tragfähigkeits-Kollaps. So hat Pulitzer-Preisträger Jared Diamond auf dem Umschlagstext wohl doch Recht, wenn er orakelt „Sie werden von diesem Buch begeistert sein“, denn das waren wir von Huntingtons Clash of Civilizations ja auch; es ließ sich so leicht zerpflücken.
Grunewald, Karsten und Bastian, Olaf (Hg.): Ökosystemdienstleistungen. Konzept, Methoden und Fallbeispiele. 332 S. und zahlr. Abb. Springer Spektrum. Springer Verlag Berlin, Heidelberg 2013, € 59,95
Unter Ökosystemdienstleistungen (abgekürzt: ÖSD) werden seit einigen Jahren all die Leistungen verstanden, welche die Natur für den Menschen erbringt. Hierzu zählen in erster Linie die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser, erneuerbaren Rohstoffen wie Holz und Faserpflanzen, aber auch Leistungen wie Schutz vor Bodenerosion, Filterleistung des Bodens und auch solchen, die aus der Atmosphäre hervorgehen, wie die Versorgung mit reiner, sauerstoffreicher Luft, Niederschlagswasser usw. Zu den ÖDS sind aber auch der Energietransport durch Meeresströmungen und die der Fischerei dadurch zur Verfügung stehenden Meeresorganismen zu rechnen. Zu den ÖDS werden weiterhin die physischen und psychischen Wirkungen gezählt, die von bestimmten Landschaften ausgehen (Heilklima, Entspannung). Besonders bekannt geworden ist das Beispiel der Wildbienen, die in den USA 15–30% der Bestäubungsleistung erbringen, was in einen monetären Wert umgerechnet etwa 30 Milliarden Dollar betragen soll. Hierauf bezieht sich die farbige Abbildung auf dem Außentitel des fest gebundenen Buches.
Zielsetzung des Buches ist es, für das von verschiedenen Disziplinen bearbeitete Konzept der ÖSD einen methodischen Rahmen zu entwickeln und Wege zu ihrer Analyse und Bewertung aufzuzeigen. Die Bewertung soll dabei nach Möglichkeit auch zu einer ökonomischen Bewertung bis hin zum monetären Wert führen, was freilich in vielen Fällen sehr schwierig zu leisten ist. Anhand von verschiedenen Fallbeispielen aus Deutschland wird dies von unterschiedlichen Fachvertretern eingehend diskutiert.
Die hochgradige Komplexität der Aufgabenstellung kommt darin zum Ausdruck, dass 31 Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen als Autoren an dem Buch mitgewirkt haben. Vertreter aus der Biogeographie/Landschaftsökologie, dem Natur- und Ressourcenschutz, der Landespflege, Agrarlandschaftsforschung/Agrarwirtschaft, der Raumplanung und Siedlungsentwicklung, Volkswirtschaft und Landschaftsökonomie haben bei der Kapitelbearbeitung zusammengewirkt. Einen hohen Anteil auch als Autoren haben die beiden Herausgeber.
Das 322 Seiten umfassende Buch ist übersichtlich gegliedert. Es ist in sechs Hauptkapiteln aufgebaut, die sich jeweils in mehr oder weniger zahlreiche Unterkapitel gliedern. Ein siebtes, weniger umfangreiches Hauptkapitel ist mit „Empfehlungen und Ausblick“ überschrieben. Es geht noch einmal auf die im Zusammenhang mit der Bearbeitung gewonnenen Erfahrungen ein und gibt Empfehlungen für die künftige Arbeit an dem Thema.
Das erste, einleitende Hauptkapitel erläutert den Begriff „Ökosystemdienstleistungen“ und geht auf die damit verbundenen Absichten ein. Das zweite Hauptkapitel beschäftigt sich mit der Entwicklung und den Grundlagen des ÖSD-Ansatzes. In Unterkapiteln werden die Schlüsselbegriffe behandelt und die Vorläuferarbeiten genannt, auf denen das ÖDS-Konzept aufgebaut ist. Weiterhin werden Werte und Leistungen der Natur für den Menschen beschrieben, denn das Konzept ist im Unterschied zu früheren Arbeiten zum „Leistungsvermögen des Landschaftshaushalts“ streng auf die Leistungen der Natur für den Menschen ausgerichtet. Freilich können dabei die Leistungen der Selbstregulation der Natur, welche nachhaltige Leistungen für den Menschen erst gewährleisten, nicht völlig ausgeblendet werden. Besonders wichtig im Hinblick auf die von der Landschaftsökologie erarbeiteten Grundlagen ist das dritte Hauptkapitel, genannt „Konzeptionelle Rahmensetzung“. Es geht zunächst auf Eigenschaften, Potentiale und Leistungen der Ökosysteme ein, klassifiziert Ökosystemdienstleistungen und nennt für den ÖSD-Ansatz fundamentale Aspekte wie den Raum-Zeit-Aspekt. Eng damit verbunden sind die Maßstabsfragen: Zeitskalen und räumliche Dimensionen. Ein Kontrollschema (Abb. 3.4) soll helfen zu überprüfen, ob bei der Analyse und Bewertung von ÖSD die fallgebundenen Raum- und Zeitaspekte auch beachtet werden. An der Fallstudie der EU-Wasserrahmenrichtlinie wird die breite Palette von raum-, zeit- und maßstabsabhängigen Beziehungen der ÖSD aufgezeigt. Das dritte Hauptkapitel zur konzeptionellen Rahmensetzung schließt ab mit einer Diskussion über die Begriffe „Ökosystem“ und „Landschaft“ im ÖSD-Konzept. Dabei wird ausdrücklich am Landschaftsbegriff i. S. der klassischen Geographie festgehalten. So wird kein grundsätzlicher Unterschied gemacht zwischen Ökosystem- und Landschaftsdienstleistungen. Letztere stellen die räumlichen Aspekte (räumliche Struktur, Beziehungen zwischen Raumelementen und Maßstabsfragen) in den Vordergrund und sind auf eine komplexere Herangehensweise in Bezug auf die Schnittstelle von ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten gerichtet. Außerdem ist der Landschaftsbegriff in der räumlichen Planung und im Naturschutz verankert und hat auch in die Gesetzgebung Eingang gefunden. Der Ökosystembegriff hingegen ist mehr auf den funktionalen Zusammenhang von Stoffen, Energie und Organismen gerichtet; er befasst sich mit offenen stofflichen Systemen mit räumlich nicht oder eher willkürlich definierten Grenzen. Das Kapitel endet, wie alle Hauptkapitel des Buches, mit einer ausführlichen Literatur-Zusammenstellung. Im vierten Hauptkapitel, das recht umfangreich ist (74 S.), geht es um die Erfassung und Bewertung von Ökosystemen. Die aussagekräftigen Titel der vier Unterkapitel lauten: „Indikatoren und Quantifizierungsansätze“, „Ansätze zur ökonomischen Bewertung der Natur“, „Szenario-Entwicklung und partizipative Verfahren“, „Komplexe Bewertung und Modellierung von ÖSD“ sowie Kommunikation über ÖSD. Das fünfte Hauptkapitel beschäftigt sich mit ausgewählten Steuerungsansätzen zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung von Ökosystemdienstleistungen und Biodiversität. Landnutzungs-, Pflege- und Schutzaspekte sowie unterschiedliche Fallbeispiele bis hin zu urbanen Ökosystemdienstleistungen am Beispiel Leipzigs finden sich im sechsten Hauptkapitel. Die Fallbeispiele sind vor allem ausgerichtet an dem Oberziel, bessere Handlungsoptionen für eine nachhaltige Nutzung und den Schutz der Natur zu entwickeln. Unter diesem Gesichtspunkt werden Agrarökosysteme einschließlich Streuobstwiesen im Biosphärenreservat Schwäbische Alb, ein Waldbauprogramm im nordostdeutschen Tiefland unter den Gesichtspunkten Rohholzproduktion, Speicherung von Kohlenstoff, Erholungsleistung und Landschaftsbild ökonomisch bewertet. Die speziellen Aspekte beim Beispiel urbane Ökosystemdienstleistungen sind die lokale Klimaregulation, die Kohlenstoffspeicherung im urbanen Raum sowie Erholung und Naturerfahrung im Stadtbereich von Leipzig. Das abschließende siebte Kapitel gibt Empfehlungen und einen Ausblick. Es geht nochmals auf Arbeitsschritte zur Analyse und Bewertung von ÖSD ein und nennt künftige Herausforderungen, vor die sich der ÖSD-Ansatz voraussichtlich gestellt sehen wird.
Im Folgenden einige Anmerkungen zu den Kapiteln fünf und sechs: Unter der Überschrift „[…] Auswahl des geeigneten Politikmixes“ zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung von Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen wird im fünften Kapitel auf die möglichen Steuerungsinstrumente eingegangen, die dem Gesetzgeber im Spannungsfeld zwischen staatlichem Handeln und Marktkräften zur Verfügung stehen. Genannt werden: das Ordnungsrecht, Anreizinstrumente (Preissteuerung, Mengensteuerung) und andererseits Möglichkeiten zur Unterstützung der Marktfunktionalität (Informationsinstrumente, Beteiligungsrechte). Einige werden bereits seit Jahren eingesetzt, andere sind umstritten, besonders bei Vertretern einer freien Marktwirtschaft. Ihr Einsatz zur Erhaltung von Biodiversität und Förderung von ÖSD ist zumeist ein schwieriger Abwägungsprozess, besonderes wenn es um Fragen nach einer ökonomischen Bilanzierung geht. Die vor allem im Hauptkapitel sechs behandelten Fallbeispiele belegen jedoch, dass besonders bei den Beispielen aus der Agrar- und Forstwirtschaft bis hin zu den Streuobstwiesen eine Quantifizierung und Monetarisierung grundsätzlich möglich ist. Eine gute Voraussetzung ist ein eindeutiger Raumbezug (z.B. Gemeindeflächenbasis oder Naturraumeinheiten). Deshalb wird für eine Integration des ÖSD-Konzeptes in die Landschaftsplanung plädiert. Auch bei landschaftsgebundenen, gesundheitsfördernden ÖSD durfte eine Bewertung bis hin zu einer Quantifizierung nicht allzu schwer fallen. Sehr schwierig dagegen wird eine Quantifizierung und Monetarisierung zum Schutze von ÖSD und Biodiversität in multifunktionalen Landschaften. In diesen Fällen werden dann komplizierte Kosten-Nutzen Rechnungen aufgemacht. Hier Lösungen zu finden, bleibt eine der Zukunftsaufgaben an diesem Konzept. Die gesamte Problematik um Ökosystemdienstleistungen und Biodiversität, deren Erhaltung und Förderung, wird in dem Buch gründlich und mit starker Fachkompetenz dargestellt. Die Präsentation ist gut verständlich; sie wird unterstützt durch textliche Hervorhebungen, einige Exkurse sowie ausführliche Tabellen und Grafiken.
Das Konzept der ÖSD ist letztlich darauf ausgerichtet, eine nachhaltige Landnutzung unter Berücksichtigung der naturgegebenen räumlichen Differenzierung der Landschaft zu gewährleisten und einer Überbeanspruchung und Degradierung unserer natürlichen Lebensgrundlagen entgegen zu wirken. Das Verständnis dafür muss im Kopf beginnen und insofern ist es auch ein Bildungsproblem. Manche Bewertung wird ambivalent bleiben, das ist besonders bei multifunktionalen Landschaften der Fall. Beim Naturschutz ist eine ökonomische Bewertung oft kaum möglich, Hier müssen dann weiterhin ethische und kulturelle Begründungen genügen.
Insgesamt stellt das Buch eine umfangreiche und sehr gründliche Auseinandersetzung mit dem ÖSD-Ansatz dar. Es kann beim augenblicklichen Stand der Diskussion als Handbuch zu diesem Thema bezeichnet werden. Die Grundlage dafür bilden vor allem die eingehenden Erläuterungen zu Begriffen, Methoden und regionalen Beispielen. Außerdem ist die breite Literaturverarbeitung ein Merkmal, das diese Bezeichnung rechtfertigt. Während der naturwissenschaftliche Anteil an dem ÖSD-Konzept begrifflich und methodisch weitgehend abgesichert ist, gibt es noch viele Probleme auf dem Feld der Bewertung und ökonomischen Umsetzung bis hin zu einer möglichen monetären Abschätzung. Sie können nur jeweils fallbezogen und in interdisziplinärer Zusammenarbeit gelöst werden, wie in dem Buch beispielhaft vorgeführt. Bei einer erfolgreichen Umsetzung des ÖSD-Ansatzes auch in den ökonomischen und sozialen Bereich wäre dem Natur- und Umweltschutz eine wichtige politisch einzusetzende Argumentationshilfe für die Umsetzung seiner Ziele an die Hand gegeben. Deshalb lohnt es sich weiterhin daran zu arbeiten. Das Buch kann zu einem wichtigen Wegweiser dahin werden. Deshalb sei es allen am Thema Interessierten sehr empfohlen.
Gruschke, Andreas: Nomadische Ressourcennutzung und Existenzsicherung im Umbruch. Die osttibetische Region Yushu (Qinghai, VR China). 504 S., 24 Abb., 73 Tab. und 19 Karten. Nomaden und Sesshafte 15. Reichert Verlag, Wiesbaden 2012, € 88,-
The ambitious doctoral dissertation of Andreas Gruschke aims at ‘expanding and deepening the knowledge about nomadic life in Tibet’ (p. 13) and focuses on the interrelationship between human-environmental resource systems and the adaptive strategies of human actors within a changing historic-political setting and a transforming socio-economic framework. A number of issues are discussed: Aspects of nomadism as a socio-economic livelihood and survival strategy; nomadism as a cultural pattern that can function and be perceived without engaging in animal husbandry; expressions and phenomena of vulnerability, livelihood systems and resilience patterns in an agro-pastoral context; options of agency within an authoritarian regime of administration and regulation. The regional focus is placed on the Tibetan Autonomous Prefecture Yushu located in the southern part of Qinghai Province, PR of China, which offers a variety of environmental properties and utilisation patterns in rural and urban contexts.
The holistic and multi-dimensional approach to change as the centrepiece of agency and structure incorporates the analysis of environmental properties in the context of a climate change debate with grave consequences for the pasture potential and for the exposure to hazards and risks. The transformation of political systems is a well-researched topic in the PR of China; the author applies the different phases of path-dependent change to the regional context and different groups in rural and urban locations. He puts special emphasis on a differentiated picture to be drawn about losers and winners of change, e.g., people who profit from a lucrative collection and trade with caterpillar fungus (yartsagunbu, Cordyceps sinensis) and livestock-keepers who hardly can make a living from their herds. How people manage to secure a livelihood is one of the guiding principles of this study that does not look for simple answers or clear-cut groupings, but which adopts a mixture of quantitative and qualitative approaches in order to better understand the perceived mosaic or varied expressions of climate, global and social change in a peripheral society.
Following a brief introduction, the study is divided into four major chapters and is concluded by a brief summary. The theoretical chapter (25 pp.) outlines the agenda and its embeddedness into geographical development research with a discussion of central terms such as sustainable livelihood systems, concepts of resources, mobility and resilience. The chapter (107 pp.) about nomadic societies on the Tibetan Plateau begins with a discussion of nomadism as concept and the justification of the term, continues with a description of the environment and interrelated hazards and risks, introduces topics on society and power structures, before returning to the nomadism debate in a Tibetan context and the transformation of nomadic livelihoods within the PR of China. The chapter ends with an overview about the demographic and socio-economic structures of Yushu Prefecture, its supra-regional interrelationships and economic opportunities. This ‘classical’ combination and interpretation of regional knowledge culminates in a typology and regionalisation (p. 159) that is surprising in light of the theoretical ambition as the juxtaposition of ecological and socio-economic features seem to be rather arbitrary. The intermediate results have spanned the conceptual framework and the regional focus, thus setting the stage for the central chapter (202 pp.) in which the nine case studies are presented. After presenting the methodological approach and the challenges for fieldwork, the logic and rationale of the adopted approach are highlighted. The basic idea is to analyse the resource potential for securing livelihoods in different groups that are characterised as ‘nomadic’, semi-nomadic’ and ‘urban’; the latter originate from the former by rural-urban migration and settlement in towns (p. 179). A further guiding principle is the rural-urban divide in which distance plays a role. The case studies are organised as a presentation of quantitative data from publications and fieldwork-based observations that are illustrated with qualitative information from interviews. This approach supplies the evidence for the determination of locations with certain ‘characteristics’ that range from ‘classical nomadic territory’ to ‘resource conflicts’, ‘pastoralism in the periphery’, ‘agro-pastoralism’, ‘pastoralism and salt-mining’, ‘outmigration to an urban area’ and ‘resettlement’. The empirical value of this study is to be found here with its rich detail in highlighting regional disparities and opportunities, challenges and chances of groups and individuals. The fieldwork-based approach basically shows that a regionalisation of group adaptation and behaviour is bound to fail as too many different experiences are made by actors that are linked to an over-complex set of parameters. Nevertheless, the aim of the study to supply a higher degree of differentiation and to question some conventional wisdom about Tibetan nomadism is fully achieved here where besides empirical data, historical depth is sought to explain change. The final chapter (23 pp.) provides a comparative perspective from the case studies and attempts to highlight some of the findings in respect of mobility patterns and household structures, the importance of the caterpillar fungus-related generation of income in view of animal husbandry, and the bleak picture of so-called ‘nomadic households’ in terms of income, economic strategies, vulnerability and resilience. The urban households are termed in the final sentences as ‘expression of resilience in these (ex-)nomadic societies’ (p. 397). Here it might be questioned whether the approach guided by fostering a concept of nomadism grounded not only in economic strategies, but as much in cultural patterns and whether the application of a regionalisation matrix served the purpose of understanding the differentiation processes that have taken place in Tibetan households within the PR of China. Finally, it remains to be stressed that it is a pity that this well-informed and thoroughly researched study is aimed at connoisseurs of the German language only.
Köpke, Peter und Sachweh, Michael (Hg.): Satellitenmeteorologie. 413 S., 152 Abb. und 59 Tab. UTB 3525. Ulmer, Stuttgart 2012, € 39,99
Als am 1. 4. 1960 TIROS 1 als erster Wettersatellit in eine Erdumlaufbahn abhob, begann für die Meteorologie eine neue Epoche. Hochs und Tiefs, die man bislang nur als abstrahierte Modelle von der Wetterkarte her kannte, wurden plötzlich real, sichtbar, begreifbar. Man konnte ihre Bewegung erfassen und verfolgen, ihre Dynamik nachvollziehen.
Die folgenden Jahrzehnte brachten rasante Entwicklungsfortschritte sowohl bei der Theorie der Fernerkundungsverfahren wie auch bei der Praxis der Satelliten-Messtechnik. Die Wissenschaft hat zunehmend gelernt, Modifizierungen natürlicher oder künstlicher Strahlung als Folge der Eigenschaften von Atmosphäre und Boden zu deuten und daraus entsprechende Messverfahren zu entwickeln. Zusammen mit den Erfolgen in der Raumfahrt und der Datentechnik sind Satelliten zu einem der effektivsten Mess-Hilfsmittel der modernen Meteorologie und klimatologischen sowie geographischen Fernerkundung geworden.
Umso erstaunlicher ist, dass es bislang in der deutschsprachigen Literatur kein umfassendes Werk über diese Technologie gegeben hat. Das vorliegende Werk schließt somit eine wichtige Lücke und macht ein breites Publikum mit der Satelliten-Fernerkundungstechnik und ihrer Nutzung in Forschung und Praxis vertraut.
In 13 Kapiteln wird der Leserschaft das komplexe und vielseitige Gebiet der Satellitenmeteorologie vorgestellt. Nach einer umfassenden, allgemeinen Einführung in das Thema im Kapitel 1 werden im Kapitel 2 die Grundlagen der Strahlung, deren wichtige Gesetzmäßigkeiten und Quellen behandelt. Kapitel 3 ist überschrieben mit: „Was passiert mit der Strahlung bis zum Signal am Satelliten“ und berichtet über Vorgänge wie Extinktion, Streuung, Absorption, Emission und Reflexion. Im Kapitel 4 geht es um die Technik des Satelliten: seine Flugbahn, die verschiedenen Messverfahren und die an Bord befindlichen Messeinrichtungen. Diese Kapitel sind von so grundlegender Natur, dass sie für jeden Nutzer von mittels Satelliten gewonnener Fernerkundungsdaten von Interesse sind.
Die folgenden Kapitel 5 bis 12 befassen sich mit der Messdatenerhebung für einzelne meteorologische Parameter: Temperatur von Atmosphäre und Boden, Wolken, Niederschlag, Aerosol, Spurengase, Eis und Schnee, und schließlich die natürlichen Strahlungsströme innerhalb der Atmosphäre und am Boden. Jedes der Kapitel stellt Anwendungsbeispiele der Satellitendaten vor. Kapitel 13 informiert über die derzeit eingesetzten Satellitentypen, ihre Sensoren und Messprogramme. Übersichtliche Zusammenfassungen schließen die einzelnen Kapitel ab.
Der Text ist mit 152 farbigen Abbildungen illustriert und liefert in 59 Tabellen wertvolles Zahlenmaterial. Eine Reihe von Randspaltenbemerkungen zeigen Hintergründe und Verbindungen mit anderen Wissensgebieten auf, vertiefen den Stoff, oder stellen bekannte Forscherpersönlichkeiten vor. Umfangreiche Literatur-, Webseiten-, Abkürzungs- und Stichwortverzeichnisse runden das Werk ab.
Das Buch bietet einen übersichtlichen, umfassenden und soliden Überblick über das umfangreiche und komplexe Fachgebiet der Fernerkundung mittels Satelliten. Es behandelt die physikalisch-technischen Grundlagen ebenso ausführlich wie die meteorologisch-klimatologischen Anwendungen. Didaktisch besonders geschickt aufgebaut sind die ersten Kapitel, die in übersichtlichen Schritten in die physikalischen, raumfahrttechnischen und messtechnischen Voraussetzungen einführen, die man benötigt, um das komplexe System Fernerkundungssatellit zu verstehen und seine Arbeitsweise zu begreifen.
Der gesamte Stoff einschließlich der oft als schwierig empfundenen theoretischen Grundlagen der Strahlung ist so gut aufbereitet, dass ihn jeder, der mit Naturwissenschaften befasst ist – sei es in der Ausbildung oder im Beruf –, gut verstehen kann. Über ein Dutzend Fachautoren – alle ausgewiesene Experten – gewährleisten, dass das Thema aktuell und korrekt behandelt ist.
Damit ist es den beiden Herausgebern gelungen, ein Werk vorzulegen, das jedem etwas gibt, der sich für Wetter- und Klimainformationen interessiert, die von Satelliten gewonnen wurden und der das dafür physikalische Grundwissen mitbringt. Dabei profitieren von dem Lehrbuch nicht nur Hauptfachmeteorologen und an der Satellitentechnik Interessierte. Dank der guten Didaktik des Stoffes gewinnt es auch den interessierten Laien, der nicht nur schöne Satellitenbilder der Erde anschauen sondern auch verstehen will, wie diese zustande kommen. Ebenso spricht das Buch die Hobby- und Nebenfachmeteorologen an, und hier insbesondere die Geographen mit meteorologisch-klimatologischer Ausrichtung. Auch für sie ist es eine wichtige Grundlage in Ausbildung und Praxis.
Als einziges umfassendes deutschsprachiges Lehrbuch zu diesem Thema sollte die „Satellitenmeteorologie“ in keiner meteorologisch, klimatologisch oder klimageographisch orientierten Bibliothek fehlen.
Gebhardt, Hans; Glaser, Rüdiger und Lentz, Sebastian (Hg.): Europa – eine Geographie. VIII und 520 S. und 339 farb. Abb. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg 2013, € 69,95
Eine Geographie Europas verfassen zu wollen, kann in jedem Fall als ein sehr ambitioniertes Unterfangen eingestuft werden. Zweifellos hätten sich nicht viele an diese diffizile Herausforderung heran gewagt. Den drei Herausgebern ist es jedoch gelungen, ein äußerst beeindruckendes Werk vorzulegen, welches – und so viel lässt sich wohl jetzt schon verlässlich prognostizieren – über lange Zeit den Platz eines Europa-Standardwerkes in der deutschsprachigen Geographie einnehmen wird. Dass sich die Herausgeber nach eigenen Angaben zu ihrem Unternehmen, eine Regionale Geographie Europas zu erstellen, auch deshalb haben hinreißen lassen, weil vergleichbare Werke anderer Autoren und Autorinnen der letzten Zeit ggf. als weniger gut gelungen eingestuft werden müssen, ist leider weitgehend zutreffend – auch wenn man dies im Vorwort sicher hätte etwas charmanter ausdrücken können.
Das Europa-Buch ist nach Aufbau und Inhalt nicht im Sinne von klassischen Länderkunden konzipiert, sondern hochmodern als eine „Regionale Geographie“, ohne dabei aber auf die notwendige Vermittlung traditioneller, länderkundlicher Regionalkompetenzen zu verzichten. Das Werk gliedert sich in acht Hauptkapitel, die sich zunächst mit Raumkonstruktionen zum Thema Europa beschäftigen, dann Europas gesellschaftlichen Umgang mit der Natur behandeln und sich im Anschluss daran, wohl dem Lieblingsthema eines der Herausgeber folgend, der Politischen Geographie Europas widmen. Für das vierte Kapitel, das sich hauptsächlich den raumwirksamen Aspekten europäischer Geschichte widmet, wird die Überschrift „Europa als territoriales Projekt – Raumbilder und räumliche Ordnungen“ gewählt. Das folgende Kapitel über wirtschaftsgeographische Aspekte besticht vor allem durch aktuelle Detailinformationen und das Folgekapitel über Bevölkerung und Migration durch hohe Aktualität. Erfreulich daran ist vor allem auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Konstrukt des sog. Zweiten Demographischen Übergangs. Die durchgreifenden Transformationsprozesse des ländlichen Raumes in Europa (oder besser: der europäischen ländlichen Räume), einem Thema, dessen Komplexität allein einem schon die Feder stocken lassen könnte, wird geschickt in „Siedlungsstruktur und Verkehr“ unter der Überschrift „Vom Europa der Räume zum Europa der Ströme“ untergebracht, damit konzeptionell geschickt zwar etwas an den Rand gesetzt, thematisch gut eingeordnet und somit sinnvoll eingebaut, ohne unbehandelt zu bleiben. Mit dem achten Kapitel, welches Europas Entwicklungsperspektiven im Spiegel seiner globalisierten Konkurrenzen betrachtet, gelingt ein Blick in unsere Zukunft.
Das Buch ist umfassend und übersichtlich aufgebaut sowie mit einer Fülle von Detailinformationen und sehr anschaulich aufbereiteten Materialien ausgestattet. Dabei ist es so gegliedert, dass neben dem notwendigen Standardgrund- und Basiswissen auch hoch aktuelle Themen einbezogen, diese jedoch gleichzeitig so operationalisiert werden, dass sie eine über kurzlebige Tagesmeldungen hinausgehende Langzeitgültigkeit erhalten.
Schließlich mag das Europa-Buch auch denjenigen Mut machen, die sich bislang fürchteten vor den teilweise doch enormen Herausforderungen, welche etwa eine Vorlesung „Europa“ in sich bergen kann. Als zu unübersichtlich mögen dabei manchem bislang die unterschiedlichen Themen, als zu verschieden ihre Interpretationsmöglichkeiten und als zu reichhaltig die potentiellen Fallen, in die man tappen könnte, eingestuft worden sein. Zu wenig gegeben ist beim Europathema auch die schützende Ferne exotischer Themen, die sonst schon mal vor den unvermeidbaren Besserwissenden schützt, die Veranstaltungen auch nach dem Motto evaluieren „Das-ist-da-anders; da-war-ich-auch-schon-mal“. Das Europa-Werk wischt solche Bedenken hinfort und mit der neuen Europa-Geographie ausgestattet können jetzt auch solche mitreden, die bislang noch von Europa-Regionalkompetenzen weniger belastet waren.
Leibenath, Markus; Heiland Stefan; Kilper, Heiderose und Tzschaschel, Sabine (Hg.): Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften. 276 S., 7 Abb. und 7 Tab. Kultur- und Medientheorie. transcript Verlag, Bielefeld 2013, € 29,80
Das Buch bietet einen sehr guten Überblick über sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung zum Thema der Konstruktion von (Kultur)Landschaft. Es ist als Präsentation der Ergebnisse eines Projektverbundes verschiedener Partner zur „Konstruktion von Kulturlandschaften, Kulakon“ zu verstehen, welches zwischen 2008 und 2012 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Zudem wurden zwei weitere Beiträge aus Vorträgen der Abschlusskonferenz in den Band aufgenommen. Inhaltlich schlägt die Publikation einen großen Bogen von den Begriffsbedeutungen und ihrer gesellschaftlichen Konstruktion bis zu den konkreten Auswirkungen auf planerische Umsetzungen und Machtverhältnisse.
Die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich mit den theoretischen Grundlagen für die Entstehung der Landschaftswahrnehmung und Begrifflichkeiten von Landschaft, Natur- und Kulturlandschaft. Dabei wird deutlich gemacht, dass Abgrenzungen zwischen Natur-und Kulturlandschaft, wie sie alltagsweltlich häufig gemacht werden, arbiträr sind und bei genauerer Betrachtung einem hybriden Konstrukt weichen müssen, das einer ständigen Veränderung unterliegt. Zudem ist der Zugang abhängig von den AkteurInnen und ihrem jeweiligen beruflichen Hintergrund. Im Laufe der Lektüre werden die theoretischen Überlegungen zunehmend mit empirischen Untersuchungen illustriert und unterfüttert. Besonders in der zweiten Hälfte werden die Auswirkungen dieser Begriffskonstruktionen auf konkrete gesellschaftliche Prozesse diskutiert. Am Beispiel der Landschaftsplanungen zeigt sich dabei ein ökologisch konservierendes Primat über soziokulturelle Bedeutungszuschreibungen und Nutzenaspekte. Die Strukturen der Governance weisen einen komplexen und teilweise widersprüchlichen Handlungsraum (auch zwischen dauerhaften konservierenden Strukturen des Natur- und Denkmalschutzes und flexibleren projektbezogenen Formen der Regionalentwicklung) auf. Schließlich werden gesellschaftliche Aushandlungsprozesse am konkreten Beispiel der Kontroverse um Windkraftanlagen beleuchtet. Der letzte Beitrag geht schließlich auf die Auswirkungen von Machtverhältnissen auf die Landschaft ein, wobei insbesondere die Rolle von „Experten“ analysiert wird.
In seinem Einleitungskapitel hält Leibenrath fest: „Konstruktivistische, interpretative Landschaftsforschung wird auch weiterhin eine Nische innerhalb einer weitverzweigten und überwiegend von positivistischen Geographen, Landschaftsökologen und -planern geprägten „Forschungslandschaft“ bilden“. Damit spricht er die grundsätzliche Position der sozialwissenschaftlichen Forschung an, wie sie häufig auch in interdisziplinären Forschungsvorhaben mit naturwissenschaftlichen Partnern sichtbar wird. Die positivistischen Zugänge wollen den sozialwissenschaftlichen Beitrag häufig auf eine methodische Unterstützung zur Erforschung der „Realität“ oder eine „sozialingeneurhafte“ Analyse möglicher gesellschaftlicher Anpassungsleistungen an projektierte Innovationen reduzieren. In solchen Fällen wird es zur Aufgabe der Sozialwissenschaften, naturwissenschaftliche Partner auf die impliziten Grundannahmen, die ihrer Forschung zugrunde liegen und deren gesellschaftliche Konstruktion hinzuweisen. Neben dieser vor allem „dekonstruktivistischen“ Aufgabe, muss die Sozialwissenschaft aber, als normatives Element in der Beratung von Entscheidungsträgern, auch darauf Einfluss nehmen, wie mit den beabsichtigten und unbeabsichtigten Veränderungen von Seiten der Politik umgegangen werden kann. Das Buch kann in beide Richtungen wertvolle Anregungen bieten, damit die sozialwissenschaftliche Beteiligung am Diskurs zu Landschaft nicht in einer Nische verharrt, sondern offensiv aus der Nischenposition heraus verändernd wirkt. Daher ist dem Buch zu wünschen, dass es über den engeren Fachkreis von sozialwissenschaftlichen Forschern auch von den oben als „positivistisch“ angesprochenen Disziplinen rezipiert wird und zu einer kritischen Reflexion des Landschaftsbegriffs beiträgt.
Senft, Gerhard (Hg.): Land und Freiheit. Zum Diskurs über das Eigentum an Grund und Boden in der Moderne. 198 S. Kritische Geographie 18. Wien 2013, € 15,90
Die Kontroverse um Sinn und Unsinn des Eigentums an Grund und Boden hat die (kritische) Geographie erreicht, zumindest in Österreich. Man denke etwa an die Frage „Wem gehört die Stadt“, die in Deutschland wie anderswo nach wie vor ungelöst ist. Die übergeordnete Forschungsfrage lautet mehr denn je: Welche Bodeneigentumsform ist effizienter und effektiver: Privat- oder Gemeineigentum? Kann Effizienz überhaupt ein Kriterium sein, wenn es um Zugang und Nutzung des Grund und Bodens als Allgemeingut geht? Die Thematik ist hochaktuell und hat erhebliches Forschungs- und Mobilisierungspotenzial in urbanen wie in ruralen Gebieten gleichermaßen. Der Herausgeber der Publikation, Gerhard Senft, verweist mit Recht darauf, dass sich der Diskurs über das Bodenmonopol, über Grundrenten und Bodenwertsteigerungen bis in unsere Tage hinein als unabgeschlossen zeige (S. 21). Das Buch ist naturgemäß auch für Geographen eine Lektüre wert. Beispielsweise ist der Befund des Bodenreformers Adolf Damaschke, dass sich in Berlin private „Terraingesellschaften“ den Boden als Spekulationsobjekt anzueignen begönnen, eingedenk der heutigen Debatte um Verdrängung (je nach Sichtweise: Gentrifizierung) in Metropolen wie Frankfurt, München, Hamburg oder Köln immer noch bestechend. Denn: Das Streben nach (Boden-)Eigentum ist im Menschen in mannigfacher Form verwurzelt. Eigentumsrechte sind beispielsweise in der Raumplanung das Salz in der Suppe. Eine Fläche planerisch für eine bestimmte Nutzung zu öffnen ist das eine, sie eigentumsrechtlich zu bekommen, etwa für Energiezwecke, oder die Grundstückseigentümer zur Kooperation zu bewegen respektive zu zwingen, das andere. Mit viel Liebe zum sprachlichen Detail hat Senft, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, ein handliches und erstaunlich tief gehendes wirtschaftsgeschichtliches Kompendium in der Reihe „Kritische Geographie“ zusammen gestellt. Er beleuchtet in der Einleitung zunächst die bodenökonomietheoretische Seite des Eigentumsproblems (S. 9–35). Bereits das Buchcover weckt Interesse. Ein Farmer, auf den Spaten gestützt, blickt auf die bis zum Horizont reichenden Felder. Wem diese Böden gehören, erschließt sich aus der Abbildung nicht. Aber bereits die Tatsache, dass sich der Verein für Kritische Geographie in Wien und nicht eine wirtschaftswissenschaftliche oder gar juristische Institution dem Thema Eigentum an Grund und Boden widmet, verdient Anerkennung. Denn die Property-Rights-Diskussion spielt in den Geowissenschaften, soweit ersichtlich, leider nur eine randständige Rolle. Wenige Geographen haben sich bislang mit den Themen Eigentum – nicht zu verwechseln mit der Rechtsform Besitz – Bodenrente oder Erbbaurecht auseinander gesetzt. Eine Ausnahme stellt Karl Vorlaufer mit seiner originellen, empirischen Studie aus dem Jahr 1975 über Bodeneigentümergruppen und die Entstehung von Bodenrenten im Frankfurter Stadtteil Westend dar. In neun Hauptkapiteln dreht sich in der vorliegenden Publikation alles um das Eigentum an Grund und Boden: Von der klassischen Schule der Nationalökonomie, dem Sozialismus, der Siedlerbewegung bis hin zu Tagesfragen des Landeigentums. Die Bodenfrage war und ist bis in die Moderne hinein stets Soziale Frage. Dies schlug sich in den Thesen sozialistischer Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau oder Pierre-Joseph Proudhon nieder, die als Fazit ihrer kritischen Überlegungen festhielten, dass privates Bodeneigentum einen Diebstahl darstelle. Die wissenschaftliche – nicht ideologische – Auseinandersetzung um Eigentumstheorien, ihre Rechtfertigung, aber auch die Übertragbarkeit auf zeitgenössische Landnutzungskonflikte wie das „Land Grabbing“ und bis hin zu Überlegungen für transparente urbane Bodenpolitiken ist richtig und wichtig. Das Management von Land, das sich in öffentlichem Eigentum befindet, steckt international betrachtet erst in den Kinderschuhen. Es beinhaltet weit mehr als nur die Reduzierung auf die Streitfrage, ob das Bodenprivateigentum abzuschaffen sei oder ob stattdessen ohne Änderung der jeweiligen Eigentumspositionen die Grundrente abzuschöpfen wäre. Das zeigt sich anschaulich in der Kontroverse zwischen Franz Oppenheimer und Joseph Schumpeter zu Anfang des 20. Jahrhunderts, die ebenso leidenschaftlich wie wort- und geistreich ausgetragen wurde (Kap. 8). Der Diskurs innerhalb der klassischen Schule der Nationalökonomie, wie er von Adam Smith, David Ricardo und John Stuart Mill geführt wurde (Kap. 3), kann ebenfalls für heutige ökonomische und wirtschaftsgeographisch relevante Tagesfragen nutzbar gemacht werden. Man denke etwa an die Reform der Grundsteuer, für die auf den Text von David Ricardo zu „Grundrente und Grundsteuer“ von 1817 (S. 68–70) zurückgegriffen werden könnte. Für mich sind zudem die Veröffentlichungen und Rednerbeiträge der Siedler-, Bodenreform-, Genossenschafts- und Gartenstadtbewegung um Leo Tolstoi, Gustav Landauer oder Otto Neurath (Kap. 7), aber auch die Beobachtungen und Schlussfolgerungen des amerikanischen Journalisten und Sozialreformers Henry George (Kap. 6) für moderne, innovative bodenpolitische Konzepte relevant. George vermochte mit seinem 1879 in den USA erschienenen Werk „Progress and Poverty“ der Bodenreformbewegung auch in Deutschland wesentliche Impulse zu verleihen. Er vertrat die Forderung nach Aneignung der Bodenrente durch Besteuerung (S. 109). Wichtig sind auch die liberalen eigentumstheoretischen Überlegungen von Hermann Heinrich Gossen und Léon Walras Anschauungen hinsichtlich der Entwicklungsstufen der Menschheit und ihren Auswirkungen auf die Landnutzung (Kap. 5). Der Volkswirt Gossen hat in seinem Hauptwerk „Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln“ aus dem Jahr 1854 die Theorie des Grenznutzens entwickelt. Gossen forderte eine Bodenverstaatlichung unter Beibehaltung der marktwirtschaftlichen Konkurrenz- und Wirtschaftsordnung. Er äußerte Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit und Effizienz des privaten Bodenmonopols. Von entscheidender Bedeutung ist überdies der Begriff der Grundrente als Standort abhängiger Gewinn. Sie wurde gleichsam als Synonym für eine ungerechtfertigte Bereicherung der Eigentümer angesehen und – anders als heutzutage – weitgehend sozial negativ bewertet. Die Grundrente ist eigentlich ein schillernder Begriff; sie ist schwierig fassbar. Sie entsteht im Wesentlichen dadurch, dass der Eigentümer des Bodens „arbeitsloses“ Einkommen erzielen kann (vgl. Thiel 2002). Die Nationalökonomie setzte an der überwiegend einseitig fixierten Pacht an, die die Landwirte zu bezahlen hatten und die beim Großgrundeigentümer zur Generierung des Einkommens durch einseitige Eigentumsverhältnisse sowie monopolistische Festsetzungen der Pachtzinsen führte. Verglichen mit dieser historischen Quellenexegese fällt das Schlusskapitel 9, welches sich dem „Kampf um Grund und Boden heute“ widmet, deutlich ab. Amelie Lanier verknüpft die Eigentumsfrage mit einer irreführenden Neoliberalismus-Debatte (S. 179–186) und differenziert obendrein nicht zwischen Eigentum und Besitz, was anderen Autoren des Buches freilich auch unterläuft, die Sache aber nicht besser macht. Hier hätte ein gründlicheres Lektorat Abhilfe schaffen können. Die Herausbildung von Eigentumsmärkten hat m. E. nach nichts mit Neoliberalismus zu tun, schon gar nichts mit kritischer politökonomischer Theoriebildung, wie sie Johannes Jäger (S. 187–189) versucht. Abschließend plädiert Dirk Löhr für ein „schlackenfreies“, liberales und unkompliziert einsetzbares kommunales Erbbaurecht. Gemeinden sollen in die Lage versetzt werden, eine strategische Grundstücksreserve zu behalten bzw. zu bilden, die Flächenkreislaufwirtschaft in Schwung bringen zu können und planerischen Druck auf Investoren und Bauherren auszuüben. Kommunen sollen, so Löhr, über den Erbbaurechtszins der Erbbaurechtsnehmer die Grundrente abschöpfen (S. 190–198). Mein Resümee: Privates Bodeneigentum ist gewiss verstärkt mit Sozialpflichten auszugestalten. Vor allen Dingen ist sicherzustellen, dass die Eigentümer mit der Grundrente sozialpflichtig umgehen. Vielleicht ist auch das Erbbaurecht für eine bessere Innenentwicklung zu ertüchtigen. Unverändert aktuell ist der Themenkomplex der Grundrentenabschöpfung, wenn man an ausländische Direktinvestitionen in Land und Rohstoffe denkt. Die klassischen Nationalökonomen wie Adam Smith, David Ricardo und John Stuart Mill lieferten Weg weisende Gedanken und Strategien, die nicht zuletzt auch für die Entwicklungszusammenarbeit sinnvoll verwendet werden könnten. In geographischen Lehrveranstaltungen ist das Buch „Land und Freiheit“ als Grundlage für eigentumsdogmatische Begründungen und Quellenanalysen sehr gut verwendbar.
Literatur
Thiel, F. (2002): Grundflächen und Rohstoffe im Spannungsfeld zwischen Privat- und Gemeineigentum. Eine interdisziplinäre Untersuchung. Hamburger Beiträge zur geographischen Forschung 2. Hamburg.
Vorlaufer, K. (1975): Bodeneigentumsverhältnisse und Bodeneigentümergruppen im Cityerweiterungsgebiet Frankfurt/M.-Westend. Materialien zur Bodenordnung II. Frankfurter Wirtschafts- und Sozialgeographische Schriften 18. Frankfurt am Main.
Husseini de Araújo, Shadia: Jenseits vom „Kampf der Kulturen“. Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien. 328 S. und 42 Abb. Postcolonial Studies 9. transcript Verlag, Bielefeld 2011, € 33,80
Das Werk wurde ganz offensichtlich unter optimalen Voraussetzungen hinsichtlich der notwendigen Regionalkompetenzen zur Diskursanalyse aktueller Konstellationen im islamischen Orient verfasst. Die Autorin hat über Jahre hinweg beobachtet, welche Bilder von den Ländern - welche man in Europa und in Nordamerika geneigt ist, dem so genannten Orient zuzuordnen - von sich selbst und vom Westen bestehen und welche Vorstellungen man sich insbesondere in der arabischen Welt davon macht, wo die Prägemechanismen heutiger Lebenssituationen ursächlich anzunehmen sind. Dabei werden erfreulicherweise nicht die sattsam bekannten alten Klischeeaufarbeitungen nochmals bemüht, deren stetes, immer wieder aufs Neue inszenierte Heraufbeschwören - unter dem Vorwand, aktuelle Dekonstruktionen betreiben zu wollen - heute eigentlich kaum noch jemand, der sich mit den brennenden Fragen des Verhältnisses zwischen der arabischen und der westlichen Welt beschäftigt, ertragen kann. Vielmehr wird dem Leser gezeigt, wie sich welche Teile von Gesellschaften im islamischen Orient selbst sehen, einordnen und im Verhältnis zum Westen positionieren. Es wird dabei ein ausgesprochen interessantes Licht auf eine ganz andere Vorstellungswelt weit jenseits von Huntingtonschen Vereinfachungen geworfen.
Methodisch stützt sich das Werk dabei in erster Linie auf eine Diskursanalyse von Artikeln in den Printmedien „al-Quds al-Arabi“, „al-Hayat und „Asharq Alawsat“. Der westliche, möglicherweise des Arabischen in Wort und Schrift nicht immer ganz perfekte Leser lernt von Frau Shadia Husseini de Araújo vor allem, dass in der Arabischen Welt das Empfinden und das Gefühl, dass die gegenwärtigen Lebenssituationen vor allem eine direkte Folge kolonialer Durchdringungen und der Persistenz postkolonialer Strukturen seien, sehr viel verbreiteter ist, als man dies hierzulande anzunehmen bereit und in der Lage ist. In der Reihe der „Postcolonial Studies“ von „transcript“ ist die Studie daher besonders passend platziert.
Beim Versuch, sich in arabische Selbstverortungen des Eigenen und des Anderen hineinzudenken, kann es kaum eine bessere Handreichung geben, als diese hochkompetent und ausgesprochen differenziert aufbereitete Analyse. Ausgerüstet mit Frau Husseini de Araújos Jenseitsstudie kann in Zukunft auch jeder Nichtabonnent o. g. Zeitungen daraus zitieren und so tun, als verfolge man engagiert und sprachkompetent Eindrücke aus dem arabischen Raum aus emischer Perspektive. Dass sie knapp vor den Ereignissen herauskam, die man sich im Westen angewöhnt hat, als „Arabischen Frühling“ zu bezeichnen, kann als besonders günstiger Umstand eingeordnet werden, da so vorfrühlingshafte Perzeptionen noch einmal erfasst und dargestellt werden, bevor sie von einer weiteren Welle spätkolonialer Einflussnahmen überformt werden.
Fischer-Tahir, Andrea and Naumann, Matthias (eds.): Peripheralization. The Making of Spatial Dependencies and Social Injustice. 320 pp., 24 figs. and 6 tables. Springer VS, Wiesbaden 2013, € 39,95
“Periphery is everywhere”, claimed Walter Prigge in his groundbreaking publication of 1998. Today, static notions of remote locations are gone (see Manfred Kühn, Matthias Bernt, p. 304), resulting in peripheries that are situated in the centre of a spatial area; they prove that Prigge was right. Peripheralization and polycentricism have recently become tools of national and global spatial planning policies. According to the German Federal Spatial Planning Act, equivalent standards of living shall be established in all regions. Basically, however, problematic structures can require action to ensure equivalent living conditions in urban agglomerations as well. The discussion on upholding the principle of equivalent living conditions at a time when public resources are limited is one of the controversial political issues, far more than focusing on spatial planning. The alternative could be to concentrate support in growth cores, which dynamics would spread to peripheral regions. At the European level, peripheralization in the view of the European Union is defined as a core or periphery area where a prosperous, economically dynamic core zone stands in contrast to an underdeveloped, geographically remote periphery. This valuable publication, edited by Andrea Fischer-Tahir and Matthias Naumann, helps to overcome the somewhat obsolete concept of equivalent living conditions, at least in certain places in Germany. From Sangerhausen (See Thomas Bürk: “Sangerhausen: At the back of beyond? So what?” p. 177) in East Germany to public housing in Campina Grande in Brazil: Studies on peripheralization involve the recognition of social injustice as inherent in ruling development policies, or as resulting from them. One might argue: Can “social injustice” be actively made, as the sub-title suggests? Are we living in times of “utilitarian injustice” when dealing with peripheries? Utilitarian justice can be interpreted as a crucial aspect of distributing spatial benefits and burdens. Equality rights include the concept of societal commitment as an element of justice, fairness and equity. Peripheralization describes mechanics and tries to explain complexity rather than to reduce it. At the moment, however, it fails to combine “classic” spatial planning and theoretically informed social science to tackle the roots of social inequalities (see Frank Meyer, Judith Miggelbrink, p. 220). Is peripheralization thus “old wine in new bottles”? What are the spatial dimensions of core-periphery approaches, how could they be identified? Meyer/Miggelbrink put the underlying dilemma of peripheralization in a nutshell (p. 210). Any attempts to fix the spatial dimension run the risks of over-simplifying the categories by socio-spatial statistics or even indicators rather than investigating and inspecting the unique site or plot that could be affected by peripheralization. I do strongly agree with Meyer/Miggelbrink’s interpretation. The concept of peripheralization cannot act as a sufficient explanation in general. Core questions remain, such as: What are the market forces behind this? Is there a neoliberal peripheralization here? Development cannot always reduce unemployment. Since the mid-1990s, the private property euphoria in the new eastern states has been definitely over. As far as housing and industrial properties are concerned, some regions in Eastern Germany are affected by shrinking processes due to demographic changes. A new landscape of spatial injustice is evolving (see Thomas Bürk’s contribution on “voices from the margin: the stigmatization process as an effect of socio-spatial peripheralization in small-town Germany”, pp. 168–186). Surprisingly, migration trends cause low, but stabile land values in shrinking regions – the land values have never been higher there – and thus a partly massive loss of property investments. In these areas, developers’ strategies such as buying land, upgrading and selling it, do not necessarily hold anymore. In the long run, these serious trends and vicious spirals call for the intensification of transnational regional projects and common spatial planning activities within the European Union. Clear aim of such activities should be the balance of burden and advantages of the German aging population or intense internal migratory movements. Significant immigration from abroad and de-population on one hand and massive population growth in prosperous regions on the other hand might be the results of the said phenomenon: No peripheralization without actors. Border studies have to be added to the concept of peripheralization as “another layer” according to Kristine Müller’s empirical study on cross-border trade relations, cooperation, visa-procedures, state power and dependencies (see Müller, pp. 187–206). Borders are of fundamental importance to many inhabitants in border regions. Cross border economics serve as crucial economic factors. Arian Mahzouni shows how increasing land claims and environmental degradation (soil and land) in the urban areas of the Kurdistan region through real estate jeopardize the quality of life and result in alarming development trends (see Mahzouni, p. 133). Using the example of North-Eastern Pakistan, Antía Mato Bouzas illustrates how recent forms of peripheralization and marginalization of the Gilgit-Baltistan region could not be detached from historical events leading to the separation from the Indian sub-continent, the creation of new borders and the emergence of the Kashmir conflict. Bouzas points out that although the “NGOization” of Gilgit-Baltistan serves the interests of the state to maintain the territory as a de-politicized space, it has provided forms of self-representation (see Bouzas, p. 93) – here, peripheralization is meant as a political tool rather than a spatial planning instrument. Formidable tasks for research questions will surely arise in the future. Will Europeans know how to carry out these demographic and spatial developments and what their impacts on the land properties and values will be? Answers to these questions, with regard to peripheralization, cannot be found quickly enough, not even in Germany. Peripheralization reflects “dirty realities” of every-day practices (see Meyer, Miggelbrink, p. 210), vicious circles and problem spirals slowly being set in motion. No convincing answers have been found for Germany yet, let alone on a global scale, that bridge this planning gap and fill the relation between individuals and their social, but also built environments (see Thilo Lang: Conceptualizing urban shrinkage in East Germany, pp. 224–238) and that shape peripheralization used by social sciences bound to their social fabric (see Lang, p. 207). The future skills of geographers, land managers and other spatially-oriented scientists lie within the process of description, knowledge in the sense of wisdom instead of information consumption and the adjustment of predictable changes on the land markets into demand for space. The distribution of future income streams and wealth will become more stratified in European societies. Some authors ignore the fact that costs and benefits of peripheralization are coupled at different groups. To keep remote areas in active conditions, corporate social responsibilities are needed to secure provisions for local services and cultural or leisure-time offers. Development depends, to some extent, on the cooperation with the landowners who have to pay for the supply of infrastructure systems (see Amartya Sen). In urban areas, different models for the absorption of the surplus value of developed land have already been worked out to refinance the costs of development and deconstruction of housing and infrastructure. Unfortunately, the contributions given by the German scientists mostly fail to make these interconnections more clear and understandable to the reader. In particular, the concept of “shrinking” remains more than vague. From a land management perspective, no interconnections with the governance of property rights and land values are provided by the co-authors, with exception of the contributions given by Arian Mahzouni on the oil-rich Kurdish region and its attempts to increase its share of Iraqi oil revenues for polycentric economic regional development (p. 138) and Doralice Sátyro Maia’s excellent study on the publicly financed Gervásio Maia housing estate project in João Pessoa city, Brazil (p. 276).
Bauer, Ludwig: Vergleichende Hydrogeographie von Thüringen – ein wasserhistorischer Rückblick. 416 S., 142 Abb., 177 Tab., 27 Karten, Gera GmbH, Jena 2013, € 26,00
Von Ludwig Bauer, einem der Nestoren der Hydrogeographie in Deutschland und langjährig dem Landschafts- und Naturschutz verpflichteten Geographen (1963 bis 1976 Direktor des Instituts für Landesforschung und Naturschutz Halle/ Saale) ist eine „Vergleichende Hydrogeographie von Thüringen” erschienen. Bereits 1960 von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Habilitationsschrift angenommen, konnte sie, den politischen Verhältnissen der damaligen Zeit geschuldet, trotz Empfehlungen von C. Troll, E. Meynen und J. Schmithüsen seinerzeit nicht publiziert werden. Mit der unveränderten Übernahme des Manuskripts und dem Untertitel „Ein wasserhistorischer Rückblick” kann das Buch „...ein wasserhistorisch-landeskulturelles Bild des thüringischen Gewässernetzes der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts zeigen” wie es im Vorwort (S. 3) heißt. Dafür gebührt auch M. Görner als Herausgeber der Arbeitsgruppe Artenschutz Thüringen e. V. und des Verbandes für Angeln und Naturschutz e. V. Dank.
Das Buch ist in zwei Hauptkapitel unterteilt. Der erste Teil ist einer Übersicht über die Geofaktoren gewidmet, die Wasserhaushalt, Abflussverhalten und den hydrologischen Gebietscharakter der Gewässer und ihrer Einzugsgebiete bestimmen. Dazu gehören Gestein und Boden, Oberflächengestalt, Bodenbedeckung und Bodennutzung, Klima und Wetter, Gewässernetz und Wasserwirtschaft in Thüringen (ehemalige Bezirke Erfurt, Gera und Suhl). Der zweite Teil geht auf die regionalen Besonderheiten der Fließgewässer und ihrer Einzugsgebiete ein, deren Behandlung − hydrographisch geordnet − sowohl für die Saale (bis zur Mündung der Weißen Elster) als auch die Werra erfolgt. Das Saale-Gebiet schließt Selbitz, Loquitz, Schwarza, Orla, Roda, Ilm sowie die Unstrut (mit Gera, Gramme, Lossa, Helbe, Wipper und Helme) und die Weiße Elster (mit Göltzsch, Weida und Pleiße) ein. Das Werra-Gebiet umfasst Schleuse, Hasel, Felda, Ulster und Hörsel; die anteiligen Einzugsgebiete des Leine- und Main-Gebietes werden ebenfalls berücksichtigt.
Das Buch spiegelt den Stand der hydrogeographischen Forschung vor etwa einem halben Jahrhundert wider und ist dennoch nicht veraltet. Insbesondere die zahlreichen Details zu Charakteristika der Einzugsgebiete und der Gewässernetzausbildung geben ein anschaulich vermitteltes Bild der thüringischen Gewässer. Es schließt nicht nur den morphologischen Zustand wie Gewässerbett mit Sohlenausbildung und Ufergehölzausstattung, oder der Gewässernetzentwicklung ein, sondern berücksichtigt auch hydrogeologische Besonderheiten beispielsweise der Karsthydrologie im Ilm, Helbe-, Wipper- und Helme-Gebiet. Natürlich fehlen auch Angaben zu Klima- und Wasserhaushaltsgrößen nicht, die in zahlreichen Tabellen unter Angabe der verfügbaren Jahresreihen zusammengefasst worden sind; lediglich in Tab. 26 (S. 55/ 56) bleibt noch mit Hinweis auf das N-A-U-Kartenwerk (S. 309) die zugehörige Jahresreihe 1921-40 nachzutragen.
Eine besondere Note erhält das Buch zudem durch die zahlreichen Einzelheiten der anthropogenen Beeinflussung der Gewässer. Sie finden sich nicht nur in jeweils zusammenfassenden Abschnitten über die Wasserwirtschaft in den einzelnen Flussgebieten, sondern werden in logischem Zusammenhang mit hydrographischen bzw. hydrologischen Besonderheiten erwähnt, wobei der Hochwasserschutz besonders berücksichtigt wird. Sie umfassen das Spektrum von historisch nachweisbaren Veränderungen (z. B. Helbe-Teilung, Wipper-Abzweig Göllingen), durch die Anlage von Floßgräben (z. B. Weiße Elster: Elsterfloßgraben, Hörsel: Leina-Kanal) oder Teichanlagen (z. B. Ilm-Gebiet oder Plothener Teiche), bis zu ausgeführten oder seinerzeit geplanten Anlagen des Speicherbaus zum Hochwasserschutz (S. 96ff., Unstrut: S. 223/224, Saale: S. 258-262), aber auch die Auswirkungen des Braunkohlenabbaus (Geiseltal im Saale-Gebiet und anteiliges Mitteldeutsches Revier im Gebiet der Weißen Elster); die Karte 2 enthält eine Übersicht über den Hochwasserausbaugrad der Fließgewässer. In zahlreichen Passagen des Buches wird kritisch auf den damaligen qualitativen Gewässerzustand hingewiesen, wie beispielsweise die anorganische Belastung durch Salzabwässereinleitungen im Südharz- (S. 212/ 213 und 225) und (thüringischen) Werra-Kalirevier (S. 112, 286, 302-305) oder die organische Belastung durch Abwässer der Papier- und Zuckerrübenindustrie sowie die Einleitung von phenolhaltigen Abwässern z. B. in die Pleiße.
Welche Aktualität dem „wasserhistorischen” Akzent des Buches auch heute noch innewohnt, zeigen nicht nur die gegenwärtigen Diskussionen zur Werraversalzung, sondern auch die publizistisch aufgegriffenen Ereignisse der lokalen Hochwasserkatastrophe von Bruchstedt-Tennstedt im Unstrut-Gebiet am 23. Mai 1950, deren Ursachen Bauer bereits beschrieben hat (S. 71/72). Die Sulfitabwasserbelastung der oberen Saale, die der Autor ebenfalls bereits 1960 angeführt hat (S. 111, 157 und 265), führte 1976 zu einer überregional sich auswirkenden Schwefelwasserstoffbelastung der Bleilochtalsperre mit einer vollständigen Schließung des Saaletalsperrensystems. Auch die kritische Sicht auf die Nutzung von natürlichen Überschwemmungsgebieten oder Hochwasserschutzmaßnahmen, „... verursacht durch territoriale Zersplitterung und durch das Fehlen einer modernen übergeordneten wasserwirtschaftlichen Rahmenplanung, die komplex das gesamte Flußgebiet, nicht isolierte Einzelteile davon, in ihre übergeordnete Planung einbezieht”(S. 113) hat nicht nur nicht an Aktualität eingebüßt, sondern − und nun zwischenzeitlich in allen deutschen Flussgebieten − an Dringlichkeit gewonnen.
Wenn auf der einen Seite auch aus heutiger Sicht die Hochwasserschutzmaßnahmen, insbesondere des Speicherbaus, zu DDR-Zeiten als beispielhaft aufgefasst werden können, deren Stellenwert auch Bauer flussgebietsbezogen dokumentiert, stellt sich auf der anderen Seite die Frage, ob die kritischen Anmerkungen zum Gewässergütezustand tatsächlich so gravierend waren, dass eine Verhinderung der Publikation gerechtfertigt gewesen ist. Das Ausblenden umweltpolitisch relevanter Fragestellungen widerspiegelte sich in einer − ob aus „vorausschauendem Gehorsam” des Dienstherren oder als Zensur der übergeordneten Behörden − restriktiv gehandhabten Publikationsmöglichkeit wissenschaftlicher Arbeiten, von denen auch der Rezensent in späteren Jahren mehrfach betroffen gewesen ist.
Das Buch zeichnet sich durch eine verständliche Darstellung aus, die durch zahlreiche Tabellen, faksimilierte s/w-Graphiken (fast aller Darstellungen der Ursprungsversion) und Karten ergänzt und durch zahlreiche Anmerkungen und einen umfänglichen Literaturapparat vervollständigt wird. Da das Manuskript nicht digitalisiert werden konnte, haben sich einige Schreibfehler eingeschlichen. Das Buch bleibt durch den vom Autor beabsichtigten Verzicht auf eine Berücksichtigung der zwischenzeitlichen wissenschaftlichen und regionalen Entwicklung − eine Ausnahme bildet der Ausschnitt aus der Hydrologischen Übersichtskarte der DDR aus dem Jahr 1976 auf der Buchrückseite − zwar einerseits eine „wasserhistorische” Publikation. Die zeitgeschichtlich aussagefähige Dokumentation, die durchaus auch aktuelle Bezüge erkennen lässt, repräsentiert jedoch andererseits ein lesens- und empfehlenswertes, und − nicht zuletzt − auch heute noch studierenswertes Buch.